Die Wahrheit liegt in der Mitte
Fono Forum
Götz Thieme
Photo: Kaupo Kikkas
Beinahe 20 Jahre intensive Jahre verbinden die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und ihren Künstlerischen Leiter Paavo Järvi. Nach viel beachteten Sinfonien-Zyklen von Beethoven, Brahms und Schumann wenden sie sich jetzt den „Londoner“ Sinfonien von Joseph Haydn zu.
Herr Järvi, wann haben Sie zuletzt eine Haydn-Sin- fonie mit einem „normalen Orchester“ aufgeführt? Daran kann ich mich gar nicht er- innern – doch, jetzt weiß ich es wie- der: Ich habe zwei Zyklen gemacht, einmal die Pariser Sinfonien mit dem Orchestre de Paris und eine Serie mit dem Philharmonia Orchestra in Lon- don, bei der wir Haydn-Sinfonien mit den sechs Sinfonien von Carl Nielsen kombiniert haben. Das ist eine Weile her, sieben, acht Jahre. Generell ver- suche ich, es zu vermeiden, Haydn mit „romantischen“ Orchestern auf-
zuführen. Die Deutsche Kammerphil- harmonie Bremen hat in Jahrzehnten ihre Hausaufgaben gemacht, ist durch einen Prozess gegangen, in dem sie gelernt hat, wie man Musik der Klas- sik historisch informiert aufführt – im Gegensatz zu den traditionellen Orchestern, die sich auf ein größeres Repertoire konzentrieren.
Ist das auch der Grund, warum Haydn selten bei Abonnements- und Sinfo- niekonzerten programmiert wird? Ich denke schon. Ein anderer Grund ist, dass es nicht leicht ist, im Programm den richtigen Platz für eine Haydn-Sinfonie zu finden. In der
zweiten Hälfte wird eine groß besetzte, gewichtige Sinfonie erwartet, vorher ein Solokonzert, das rund eine halbe Stunde dauert. Und den Platz für eine Haydn-Sinfonie zu Beginn nimmt nun ein zeitgenössisches Werk oder eine Uraufführung ein. Außerdem ist Haydn einfach zu schwer, um ihn in diesem Kontext angemessen einzustu- dieren. Und viele Orchester haben ein bisschen Angst vor Haydn, weil sie wis- sen, dass sie hier nicht zu Hause sind.
Sie spielen jetzt die zwölf Londoner Sinfonien ein – bleibt es dabei oder dürfen wir mit einem Gesamtzyklus rechnen?
Am Anfang stehen erst einmal die Londoner Sinfonien. Aber man weiß nie. Sicherlich wäre es schön, die Pariser Sinfonien aufzunehmen und die eine oder andere Sinfonie dazwi- schen – zuerst müssen wir die zwölf beenden.
Warum beginnen Sie eigentlich mit den späten Werken? Wenn man den witzigen, formal experimentierenden Haydn zeigen möchte, wird man eher etwa bei den Pariser Sinfonien fündig.
Unter allen Sinfonien gibt es tat- sächlich einige Juwelen. Aber für mich ist es ziemlich offensichtlich, dass die letzten Zwölf so etwas wie der Höhe-
punkt seiner Meisterschaft sind, sie sind die komplexesten und tiefgrün- digsten. In ihnen ist all sein Wissen, sind seine Erfahrungen, die er bis zu diesem Zeitpunkt gesammelt hat, ein- geflossen. Ähnlich verhält es sich mit Mozart, seinen letzten sechs Sinfonien. Oder mit Bruckner. Wenn man die Nummern 7, 8, 9 hört, da befindet man sich auf einer anderen Ebene.
Haydn hatte bei seinen beiden Eng- landreisen – insgesamt hielt er sich mehr als drei Jahre auf der Insel auf – einen enormen Erfolg. Er hielt nach seinem Tod bei den Engländern an; viele ihrer Dirigenten, Thomas
Beecham, Colin Davis, Simon Rattle, haben Haydn sehr hochgeschätzt, im Gegensatz zu Musikern des Konti- nents. Spiegeln diese Londoner Sinfonien möglicherweise britische Charakterzüge wieder?
Das ist möglich. Haydn besaß et- was Bodenständiges, und in England gibt es einen Sinn für trockenen Hu- mor. Haydn war für seinen Witz und Humor berühmt und hatte es daher leicht bei den Briten, in deren Kultur beides auf ähnliche Weise vorhanden ist. Natürlich hat es geholfen, dass es so viele großartige Dirigenten seiner Musik in England gegeben hat. Diese Offenheit gegenüber Haydn wurde dort von Generation zu Generation weitergetragen. Aber gab auch her- vorragende Haydn-Dirigenten in den USA, wie zum Beispiel George Szell ...
Und Leonard Bernstein!
Genau.
Glauben Sie, dass Haydn generell noch unterschätzt wird?
Ja. Und deshalb ist es hilfreich, dass wir heute eine größere stilistische Flexibilität besitzen. In Bezug auf sei- ne Musik gab es früher eine äußerst romantische Herangehensweise, die dann von Musikern mit neuen Ideen hinterfragt wurde, Vertreter der von mir geschätzten historischen Auffüh- rungspraxis wie Roger Norrington, Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner und viele andere. Ich bin überzeugt, dass wir uns gerade in der besten aller Welten befinden. Die Be- wegung hat ihren Gipfel erreicht. Jetzt
Aktuelles Album
Haydn: Sinfonien Nr. 101 & 103; Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Paavo Järvi (2022); Sony
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schlägt das Pendel ein wenig zurück in die Mitte, man kann das Wissen die- ses historisch informierten Ansatzes nutzen, aber auch traditionelle Ideen einbeziehen. Die Wahrheit liegt immer irgendwo in der Mitte.
Was für ein Bild von Haydn haben Sie?
Von ihm als Person oder seiner Musik?
Im 19. Jahrhundert nannte man ihn jovial „Papa Haydn“.
Aber das sollte man als Kompliment verstehen!
Das sah Johannes Brahms genauso: „Das war ein Kerl! Wie miserabel sind wir gegen sowas!“, hat er gesagt.
Wenn zwei der größten Kompo- nisten, Mozart und Beethoven, einen Papa nennen, dann hat man etwas richtig gemacht. Haydn hatte einen fundamentalen, nicht zu unterschät- zenden Einfluss. Der vielleicht grö- ßere Schaden für seinen Ruf war ein ziemlich hartnäckiger, romantischer, post-wagnerianischer Ansatz des Mu- sizierens, der übrigens auch andere Komponisten betrifft. Hören Sie sich die Haydn-Aufnahmen von Herbert von Karajan und den Berliner Phil- harmonikern an – sie sind gut und ein Dokument dieser Zeit. Aber sie finden darin eben nicht diese spezielle Art von Witz, die Flexibilität, den Charme und Humor, all das, was für Haydns Musik charakteristisch ist. Das ist alles etwas ernst und eins zu eins gespielt. Bernstein stellt sich mehr ein auf die inneren Dialoge dieser Musik. Als Per- sönlichkeit war Bernstein viel bereiter, zu experimentieren – und Spaß zu haben! Man darf nicht zu schüchtern sein, diese Seite auszuleben.
Die Besetzung der Bremer Kammer- philharmonie entspricht in ihrer Stärke der von Peter Solomons Or- chester bei Haydns erstem Aufenthalt in London. Allerdings war beim zwei- ten Aufenthalt das Orchester nach Quellenangaben wohl noch größer,
bestand aus etwa 60 Mitgliedern. Das heißt, dass die Sinfonien 101 und 103, die jetzt zuerst von Ihnen aufgenommen wurden, damals mit mehr Musikern aufgeführt wurden. Das wollten Sie nicht nachvollziehen?
Wir haben es in Betracht gezogen, es dann nicht getan. Die unterschied- lichen Besetzungsstärken innerhalb kurzer Zeit während Haydns beiden Aufenthalten zeigen ja, dass die Zahl der Musiker nicht in Stein gemeißelt war. Allgemein räumen wir den histo- rischen Bedingungen einer einzelnen Aufführung zu viel Priorität ein. Wir neigen dazu, bei all den Informatio- nen, die wir haben, ein bisschen aka- demisch zu werden. Der Ausgangs- punkt sollte ein wissenschaftlicher sein, aber dann gibt es immer Raum für Experimente, Flexibilität. Die Komponisten jener Zeit nutzen das kleine Orchester nicht, weil sie kein größeres Orchester haben wollten, sondern weil es die finanziellen Mög- lichkeiten nicht erlaubten. Wir wissen, dass Haydn in London eine Auffüh- rung oft vom Cembalo aus leitete. Dass bedeutet nicht unbedingt, dass heutige Aufführungen ein Cembalo benötigen. Damals fühlte sich das richtig an. Ein Moment, nicht mehr.
Und was machen Sie dann mit dem Cembalo-Solo im Finale der Sinfonie Nr. 98?
Ja, klar, da wird es ein Cembalo-Solo geben, es steht ja in der Partitur.
Aber in den drei Sätzen vorher wer- den wir es als obligates Instrument nicht hören, wie es damals wohl prak- tiziert wurde?
Nein.
Da sind Sie historisch ziemlich frei, wenn ich mir die Bemerkung erlau- ben darf.
Die wichtigere Frage ist, wie man die innere Welt, die innere Bewegung jedes Stücks als Ganzes organisch und logisch zum Klingen bringt. Egal ob mit unseren heutigen Instrumenten, mit Originalinstrumenten, mit einem größeren Orchester oder einem klei- neren: Wenn das Musizieren selbst fantasievoll und lebendig genug ist, wird ihnen das Publikum folgen. Die Bewegung der Aufführungspraxis war wichtig, doch selbst zentrale Figuren wie Harnoncourt und Norrington ha- ben dieses Repertoire mit modernen Orchestern aufgeführt.
Aufschlussreich ist ein Stich mit der Sitzordnung bei den Solomon-Kon- zerten: Alle Streicher sind geteilt und sitzen sich links und rechts gegen- über, also nicht nur die Violinen, auch Bratschen, Celli und Kontrabässe. Das hat übrigens dann Richard Wag- ner aufgegriffen: Im Orchestergraben des Festspielhauses in Bayreuth sind die Streichergruppen ähnlich verteilt. War diese Zweichörigkeit, diese Art Stereoanlage auf der Bühne, bei der Aufnahme eine Option für Sie?
Ich kenne den Stich. Wir haben das diskutiert und ich finde die Sitz- ordnung interessant, wir haben sie aber für die Aufnahme nicht über- nommen. Ich bin auf jeden Fall offen dafür, sie live und im Konzert auszu- probieren. Aber bei kleinen Orches- terbesetzungen mit zwei Pulten für die Bratschen ist das nicht optimal für die Einheit der Gruppe. Andererseits haben sie mit dieser getrennten Auf- stellung sicherlich einen akustischen Vorteil. Ja, sie ist eine Option ...
Wie haben Sie diese erste CD auf- genommen: im Studio oder live mit zusätzlichen Korrektur-Sitzungen?
Im Studio, wir werden alle Sinfonien im Studio produzieren.
Mit welchen anderen Komponisten lässt sich Haydn in Konzertprogram- men besonders gut kombinieren?
Haydn passt zu allen Werken der Wiener Klassik, auch einigen aus dem Barock, beispielsweise Bach, Händel. Und klar, mit allen deutschen Kom- ponisten wie Bruckner, Brahms, sogar Schumann. Dann muss man etwas
vorsichtig sein. Wahrscheinlich ist Haydn nicht der beste Begleiter von Rachmaninow oder Prokofjew (lacht).
Was ist mit Béla Bartók?
Ja, stimmt. Bartók funktioniert sehr gut. Anders als Mozart, der sich tat- sächlich für jede Kombination eignet, ist das bei Haydn nicht der Fall.
„Ohne Haydn würde es das etablierte Modell der Gattung Sinfonie nicht geben“
Zum Schluss vielleicht ein Wort zu Haydns geschichtlicher Stellung. Könnte man sagen: ohne Haydn kein Mozart?
Ja, ohne Zweifel. Ohne ihn würde es das etablierte Modell der Gattung Sinfonie nicht geben. Große Genies kündigen sich nicht mit Vorwarnung an, um es mal so auszudrücken. Mo- zart hat sicherlich alles von Haydn gelernt. Ich habe die Hoffnung, und ich sehe da Anzeichen, dass jünge- re Dirigenten sich wieder mehr für Haydn interessieren. Wenn man die großen Dirigenten der Vergangenheit anschaut, von Toscanini bis Szell, ist offensichtlich, dass sie ihn als zentralen Teil des Repertoires betrachtet haben. Auch wenn sie nicht viele Sinfonien aufgeführt haben wie ein Fritz Reiner, ein Stokowski: Sie alle hatten sie im Repertoire und in ihren Programmen. Und das ist kein Zufall. Wenn man eine Sinfonie von Mozart oder Beethoven gut aufführen will, ist es ratsam, sich vorher mit Haydn zu befassen.
Als ich jetzt die erste CD Ihres Zyklus gehört habe, war ich bei der Einlei- tung zum ersten Satz der Sinfonie Nr.
101 „Die Uhr“ sehr überrascht, dass sie mich an Otto Klemperers Aufnah- me erinnerte. Also verglich ich die Aufnahmen – und war verblüfft, wie sie beide den Holzbläsern Prominenz einräumten, wie sie die Phrasen ähn- lich gestalteten. Nur: Klemperer war etwa doppelt so langsam ...
Klemperer war immer sehr gut in der Wahl seiner Tempi, die pragma- tisch und organisch ausfielen, vor allem deren Relation untereinander. Es ist immer wertvoll, seine Auffassun- gen zu studieren, weil er allen Unsinn vermied. Aber es war damals ein un- ausweichlicher Stempel der Zeit, dass Einleitungen, dass ein Adagio sehr langsam zu sein hatten – selbst bei Bernstein und natürlich bei Karajan. Natürlich spielte die historisch infor- mierte Aufführungspraxis für Klempe- rer keine Rolle, trotzdem haben seine Aufnahmen etwas Gültiges. Sie fühlen sich richtig an. Die Proportionen stim- men, die musikalische Substanz ist bestens artikuliert. Es geht eben nicht immer um Tempi.
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