WIESBADEN/Kurhaus: Eine Sternstunde der Romantik– Liu, Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich in Wiesbaden
Eine Sternstunde der Romantik – Liu, Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich in Wiesbaden am 30.8.2024
Foto: Ansgar Klostermann
31.08.2024 | Konzert/Liederabende
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Im prächtigen Ambiente des Friedrich-von-Thiersch-Saals in Wiesbaden trafen am 30. August 2024 einige der besten Musiker der Welt aufeinander: Der aufstrebende Klaviervirtuose Bruce Liu, das renommierte Tonhalle-Orchester Zürich und sein Chefdirigent Paavo Järvi. Ein Abend, der Romantik pur versprach – von Bedřich Smetanas spritziger Ouvertüre über Frédéric Chopins seelenvolles Klavierkonzert bis hin zu Johannes Brahms‘ erster Sinfonie.
Die Ouvertüre zur Oper „Die verkaufte Braut“ von Bedřich Smetana ist ein Inbegriff böhmischer Lebensfreude. Schon die ersten Takte mit ihren perlenden Streicherläufen und den temperamentvollen Einsätzen der Bläser entfesseln einen wahren Sturm der Heiterkeit. Smetana, der als Begründer der tschechischen Nationalmusik gilt, hat mit dieser Ouvertüre ein Werk geschaffen, das sprüht vor Esprit und Leichtigkeit. Sie erzählt von Dorffesten, von Tanz und jugendlicher Unbeschwertheit – eine musikalische Ouvertüre im wahrsten Sinne des Wortes.
Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich eröffneten den Abend mit einer Interpretation, die der Funken sprühenden Natur dieser Ouvertüre vollkommen gerecht wurde. Järvi, bekannt für seine Präzision und seine klare musikalische Strukturierung, ließ das Orchester aufleben. Die Holzbläser glänzten mit brillanten Phrasen, während die Streicher mit einem federnden, tänzerischen Impuls agierten. Die Musizierfreude war in jedem Takt zu spüren, das Publikum war sofort gefesselt und mitgerissen.
Foto: Ansgar Klostermann
Der Pianist Bruce Liu ist ein wahres Ausnahmetalent, das die Welt spätestens seit seinem Sieg beim Internationalen Chopin-Klavierwettbewerb in Warschau im Sturm erobert hat. Seine Interpretationen von Chopin haben ihm den Ruf eines echten Chopin-Spezialisten eingebracht, wobei er durch technische Brillanz, eine unerschöpfliche Palette an Klangfarben und eine tief empfundene Musikalität beeindruckt. Liu vereint jugendliche Energie mit einer bemerkenswerten Reife und Sensibilität, die seinem Spiel eine besondere Magie verleihen.
Frédéric Chopins Klavierkonzert Nr. 1 in e-Moll Op. 11 ist ein Schlüsselwerk der romantischen Klavierliteratur. Es fordert nicht nur technische Höchstleistungen vom Solisten, sondern verlangt auch eine tiefgehende emotionale Auseinandersetzung. Besonders der zweite Satz ist von einer poetischen Innigkeit und einer lyrischen Melancholie, die unter die Haut geht. Die orchestrale Begleitung bleibt dabei eher im Hintergrund und schafft eine stimmungsvolle Kulisse, auf der das Klavier solistisch erblüht.
Bruce Liu meisterte Chopins anspruchsvolles Konzert mit einer fesselnden Mischung aus technischer Finesse und emotionaler Dichte. Seine Anschlagskultur zeigte sich von außergewöhnlicher Vielfalt: Mal zauberte er federleichte, fast gläserne Töne aus dem Flügel, die in ihrer Zartheit wie Tautropfen in der Morgensonne schimmerten, mal setzte er kraftvolle, markante Akzente, die die dramatische Spannung des Stückes unterstrichen. Besonders beeindruckend war, wie Liu in den schnellen Passagen mit blitzschnellen Fingern perlende Läufe spielte, die wie funkelnde Edelsteine in den Raum klangen. Die Dynamik seines Spiels reichte von sanftem Pianissimo bis zu einem gewaltigen, fast orchestralen Fortissimo, das die gesamte emotionale Bandbreite des Konzerts voll zur Geltung brachte. Liu verstand es fabelhaft, Spannung aufzubauen und diese in emotional aufgeladenen Höhepunkten zu entladen, ohne jemals die Kontrolle über den musikalischen Fluss zu verlieren. Seine Agogik – die feine Kunst der Tempo- und Rhythmusgestaltung – war ein wahres Lehrstück für sich. Liu gestaltete Übergänge fließend und natürlich, variierte subtil die Tempi und schuf dadurch eine lebendige, atmende Interpretation. Besonders in den lyrischen Passagen des Larghettos schien die Zeit für einen Moment stillzustehen, während Liu mit nuancierter Phrasierung und einem innigen, fast fragilen Ausdruck das Publikum in seinen Bann zog. Wie ein impressionistischer Maler tupfte er feinste Farbvaleurs auf seinen Steinway Flügel. Kostbare Minuten für den emotionalen Seelenflug.
Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich reagierten sensibel auf Lius Spiel, unterstützten ihn mit einer kraftvollen, fein abgestimmten Begleitung und bildeten einen klanglich reichen, doch auch ebenso zurückhaltenden Teppich, auf dem das Klavier glänzen konnte. Die Interaktion zwischen Solist und Orchester war von großer Feinfühligkeit geprägt, was zu einem beeindruckend geschlossenen Klangerlebnis führte. Das Publikum war begeistert und durfte sich dann nochmals über eine Chopin Zugabe freuen.
Die Sinfonie Nr. 1 in c-Moll op. 68 von Johannes Brahms ist ein monumentales Werk, das oft als das „Zehnte“ Werk von Beethoven bezeichnet wird. Brahms benötigte über 14 Jahre, um diese Sinfonie zu vollenden, und sie stellt ein dramatisches Ringen um Ausdruck und Form dar. Von der Schicksalsfanfare des ersten Satzes bis hin zum triumphalen Finale spannt sich ein breiter musikalischer Bogen, der die ganze emotionale Tiefe und Komplexität des Komponisten spiegelt. Besonders beeindruckend ist der Übergang vom düsteren Anfang zur Licht durchfluteten Coda des vierten Satzes.
Paavo Järvi hat mit dem Tonhalle-Orchester Zürich eine Klangkultur erschaffen, die ihresgleichen sucht, und in der Interpretation von Brahms‘ Sinfonie Nr. 1 einen Höhepunkt gefunden, der wie eine Offenbarung wirkte. Diese Aufführung geriet zu einer orchestralen Sternstunde, deren emotionale Intensität fast physisch spürbar war und das Publikum von der ersten bis zur letzten Note faszinierte. Bereits der erste Satz, den Järvi in einer lebendigen, vorwärtsdrängenden Gangart anlegte, ließ die Energie erahnen, die den Abend durchziehen würde. Mit einer drängenden Pauke und kraftvollen Klangballungen schuf Järvi eine Spannung, die sich wie ein Bogen über das ganze Werk spannte. Das Tempo war flott, aber nicht übereilt. Die schroffen Akzente und die kunstvollen Dialoge zwischen den verschiedenen Instrumentengruppen verliehen der Sinfonie eine Präsenz, die selten so eindringlich und unmittelbar erlebt wird. Es war, als würde Johannes Brahms selbst durch die Noten hindurch sprechen, so lebendig und modern klang seine Musik. Järvi entlockte dem Orchester eine Dramatik, die kraftvoll und doch niemals überladen wirkte. Die Präzision der Linienführung und die dynamische Bandbreite der Aufführung spiegelten die tiefgehende Musikalität und das feine Gespür Järvis für jedes Detail wider. Besonders das warme, volltönende Blech, die intensiven Holzbläser und die tiefgründigen, satt klingenden Streicher trugen zur majestätischen Aura der Sinfonie bei, während das Orchester als Einheit auf höchstem Niveau agierte, immer in perfekter Harmonie mit seinem Dirigenten. Hervorragend auch die solistischen Beiträge, allen voran das betörende Violin-Solo des albanischen Konzertmeisters Klaidi Sahatçi, der mit üppigem Ton und feinster Melodieführung für Gänsehautmomente sorgte. Es waren Augenblicke wie dieser, die das Konzert zu einem wahren Geschenk für alle Anwesenden machten. Ein Publikum, das sich des außergewöhnlichen Glücks bewusst war, Zeuge dieser Darbietung zu sein, brach am Ende in euphorischen Jubel aus.
Diese Sternstunde sagt viel über die künstlerische Persönlichkeit Paavo Järvis aus. Statt einer typischen Brahms-Zugabe überraschte er mit einem Augenzwinkern: Ein hinreißend virtuoser „Hummelflug“ von Nikolai Rimsky-Korsakov setzte den Schlusspunkt eines unvergesslichen Abends und zeigte einmal mehr, warum das Tonhalle-Orchester Zürich unter Järvis Leitung zu den führenden Klangkörpern Europas zählt.
Der Konzertabend im Friedrich-von-Thiersch-Saal in Wiesbaden war eine Hommage an die Romantik, die von der ersten bis zur letzten Note überzeugte. Bruce Liu faszinierte als Pianist mit einer Darbietung, die sowohl technisch brillant als auch emotional tief bewegend war. Seine Fähigkeit, selbst feinste dynamische Abstufungen und musikalische Nuancen hörbar zu machen, zeugte von seiner außergewöhnlichen Reife und Virtuosität. Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich setzten mit Smetanas spritziger Ouvertüre und Brahms‘ gewaltiger Erster Sinfonie klangliche Akzente, die in ihrer Ausdruckskraft und musikalischen Tiefe nachhaltigen Eindruck hinterließen. Es war ein Abend, der einmal mehr zeigte, dass große Musik in den Händen von wahren Künstlern zu einem Erlebnis wird, das die Zeit vergessen lässt.
Dirk Schauß, 31. August 2024
Besuchtes Konzert im Kurhaus Wiesbaden am 30. August 2024
Bruce Liu, Klavier
Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi, musikalische Leitung
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