Die Titanen sterben aus

Von Jürgen Otten
29 Oktober 2009
fr-online.de

Wie groß die Nöte in Musik-München sind, das konnte man neulich in der Süddeutschen Zeitung lesen. Eine ganze erste Seite widmete sich das Feuilleton der Causa Christian Thielemann, oder besser: der Frage, was nach ihm kommen kann, darf, soll und/oder muss. Wie berichtet, verlässt der Dirigent - nicht ohne zuvor ein riesiges publizistisches Schaumbad eingelassen zu haben - am Ende der Spielzeit 2010/11 die Isarmetropole, um sich fürderhin in der sächsischen Provinz um seine Lieblinge zu kümmern, die da, neben Anton Bruckner, vor allem Richard Strauss und Richard Wagner heißen.

Die Gültigkeit der Tradition


In Dresdens Semperoper findet er dafür ein angemessenes Spielfeld. Die "Wunderharfe", wie die Sächsische Staatskapelle huldvoll genannt wird, hat mehrere Bühnenwerke der beiden Richards in die Welt gesetzt, und das Wort von der Tradition gilt dort nach wie vor viel.

Wer aber setzt sich auf den vakanten Posten in München? Die Frage ist so im Grunde nicht zu stellen. Denn präziser muss sie lauten: Wer ist überhaupt imstande, Chefdirigent der Münchner Philharmoniker zu werden? Wer besitzt die nötigen Qualitäten? Wer ist bereit, den ästhetischen Horizont, der bei Thielemann so eng war wie ein Nadelöhr, wieder zu weiten? Wer beherrscht sowohl den Kanon der großen klassischen und romantischen Symphonien von Mozart bis Mahler, und wer hat darüber hinaus Interesse und Sachverstand für die Musik danach, die ja doch immerhin ein ganzes Jahrhundert und ein bisschen mehr umfasst?

An dieser Stelle wird ein zentrales Problem evident. Dirigenten, die beides können, Haydns Vierte und Rihms Erste, Brahms´ Zweite und Hartmanns Dritte (vom französischen Repertoire und den zeitgenössischen Werken mal ganz zu schweigen), sind rar gesät.

Insofern glich das "Dirigenten-ABC", das die SZ ihren Lesern präsentierte, beinahe mehr einer Satiresammlung denn einem ernst gemeinten Bewerbungsformular, zumal einige renommierte Persönlichkeiten, so beispielsweise Daniel Barenboim, Christoph Eschenbach und Riccardo Muti, fehlten.

Denn nicht nur wurden dort hochmögende Dirigenten aufgeführt, die - wie etwa Simon Rattle, Riccardo Chailly und Paavo Järvi - auf Jahre gebunden sind (Rattle mit gerade frisch unterzeichnetem Vertrag bis 2018, Chailly bis 2015, Järvi bis 2013), sondern auch jene, die als Experten für eine schmale Richtung in der (Neuen) Musik Beachtliches geleistet haben, aber als Generalmusikdirektoren eines großen Symphonieorchesters undenkbar wären; zumal bei einem Klangkörper, den einmal ein Sergiu Celibidache in höchste Höhen führte. Wohin das Ohr hört, es herrscht Mittelmaß. Große Dirigenten, die das Format und die Aura etwa eines Claudio Abbado haben, findet man kaum mehr. Man findet große Könner, wie Mariss Jansons und Paavo Järvi, wie Sakari Oramo und Esa-Pekka Salonen. Man findet Dirigenten, die fantastisch Oper dirigieren können wie Kirill Petrenko und Vladimir Jurowski, wie Antonio Pappano und Kent Nagano. Man findet enorme Begabungen, wie Daniel Harding, Andris Nelsons und Yannick Nézet-Séguin. Was aber vergeblich sucht, ist ein Dirigent, der über jenes Charisma verfügt, dass noch einen George Solti, einen Günter Wand oder einen Kurt Sanderling auszeichnet. Die Titanen sterben aus.

Was in Berlin rumort


Das spürt man nicht nur in München. Besonders laut ist dieses Lied in der bundesdeutschen Kapitale zu hören. Während bei den Philharmonikern und beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin alles in Butter ist, während die drei Musiktheaterbühnen der Stadt mehr als passabel ausgestattet sind (einzig Carl St. Clair als Nachfolger des genialisch-präzisen Petrenko ist an der Komischen Oper den Beweis seiner Extraklasse bislang schuldig geblieben), rumort es zumindest bei zwei Berliner Symphonieorchestern gewaltig. Besonders heikel stellt sich die Situation beim Deutschen Symphonie-Orchester dar. Nach der Entscheidung Ingo Metzmachers, am Ende dieser Saison zu demissionieren, sieht sich das DSO in der Not, relativ kurzfristig einen Nachfolger zu finden. Das Problem ist nur: Woher so schnell jemanden nehmen, der für höchste Qualität bürgt?

Die Macht an der Spree


Die Auguren verkünden, es hätten schon einige Kandidaten abgesagt. Was wenig erstaunt. Die, die für glanzvolles Niveau garantieren, warten auf prestigeträchtigere (und höher dotierte) Positionen oder haben sie bereits inne.

Misslich auch die Lage am Gendarmenmarkt. Die Ehe zwischen Lothar Zagrosek und dem Konzerthausorchester ist mit Schmackes in die Brüche gegangen. Gleichwohl hat "Zag", wie er auf Plakaten für sich wirbt, einen Vertrag bis zum Ende der Saison 2010/2011. Man muss also nolens volens noch fast zwei Jahre miteinander aushalten; wie das gut und ohne weiteren Qualitätsverlust gehen soll, wissen allein die Götter.

Unüberhörbar aber das Gezwitscher von den Dächern des Schinkelschen Musentempels: es bestehe Grund zu leiser Hoffnung. Ivan Fischer war kürzlich in der Stadt, um die Berliner Philharmoniker zu dirigieren. Wieder einmal zeigte sich, welch ein exzellenter Dirigent der Ungar ist. Doch wird er sich, so man ihn für die schwierigen Aufgabe gewinnen kann, weder mit der Chefrolle beim Orchester noch mit den derzeit gültigen finanziellen Konditionen begnügen. Fischer will gestalterische Macht.

Aber so sind die Spielregeln. Wo Qualität selten ist, hat sie umso mehr Freiheit, wenn sie erscheint. Auch in der Berliner Causa ist das so. Den Trumpf zur Zeit hält Fischer in der Hand. Das Orchester braucht ihn mehr als umgekehrt. Er hat ja schon zwei Chefpositionen. In Budapest und in Washington.

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