Gebraut nach dem Reinheitsgebot
Label: RCA Red Seal , VÖ: 09.10.2009
Kritik von Prof. Egon Bezold, 10.12.2009
Klassik.com
Wer ist nicht schon nach den ersten Takten der im Pianissimo verhauchenden Brucknerschen Tremoli, dem ‚Urnebel’, zum Volumeregler geflüchtet, um einbrechende Fortissimo-Akkorde rechtzeitig auf nachbarfreundliche Lautstärke zu reduzieren? Zu Klagen über diese dynamischen Widrigkeiten gibt der Live-Mitschnitt von Bruckners Neunter aus Frankfurts Alter Oper (realisiert vom Aufnahmeteam des HR) keinen Anlass. In der Tat kann der Hessische Rundfunk auf eine beachtliche Bruckner-Tradition zurückblicken, besonders seit der spektakulären Ära von Eliahu Inbal, der mit Einspielungen der Urfassungen von Bruckners Sinfonien Furore machte. Die Affinität für das Brucknersche Idiom findet jetzt in Paavo Järvi eine würdige Nachfolge. Wer Anton Bruckners ‚dem lieben Gott’ gewidmete Neunte Sinfonie interpretiert, muss spüren lassen, wie hier letzte musikalische Fragen offen bleiben. Wäre Paavo Järvi ein reiner Strukturalist, dann verkündigte er nur halbe Bruckner-Wahrheiten. Doch genau das Gegenteil ereignet sich in dieser mehrkanaligen Wiedergabe.
Schon die Exposition des majestätischen, kompakt kraftvoll gebauten Kopfsatzes verdeutlicht Järvis Gangart: Da erhebt sich in gemessen Tempi die riesige Architektur, die den Dirigenten als souveränen Gestalter, als Meister des Bogenspannens, ausweist. Alles ist von vibrierender Energie erfüllt, akkurat ausgestaltet. Was da zustande kommt, ist keine abgeklärte Klanganalyse, sondern die Hitze eines überlegen geführten Gefechts. Während man zu Inbals Zeiten, auch später bei Dmitrij Kitajenko, dachte, dass das Orchester an den Maestri ihres Fachs noch wachsen könne, die Tutti noch geschmeidiger, die klangliche Komponente noch runder sein könnte, scheint das Orchester unter Paavo Järvis Leitung hinsichtlich der Spielkultur im Ranking der europäischen Rundfunkorchester an die Spitzengruppe einzurücken.
Auffallend signalisiert die Neunte diesen Aufwärtstrend. Innig gestaltet das Orchester die schlichten Choralmelodien. Das bündig- markante Scherzo besitzt Farbe, ohne extreme Kontraste vorzuspiegeln. Erschütternd erklingt das 'Adagio’ des dritten und letzten Satzes. So steht Järvis Konzept eindeutig an der Schwelle zur Neuen Musik, vor allem unterstreicht der klangmächtig heraus gemeißelte Nonenakkord die Modernität seines Bruckner-Bildes. Und immer wieder sorgt ein perfekt ausbalanciertes Klangbild für Transparenz. Es gibt weder mystische Nebellandschaften noch eine überzogene Linearität, auch keine Überartikulation von Details, die zur Zerfaserung führen könnten.
Järvi pflegt einen geschmeidigen, hellen, kernigen, beileibe nicht weich fließenden Klang im Sinne der ehrwürdigen Bruckner-Apostel. Bruckner-Wahrheiten liegen – so scheint es –immer in der Mitte; weder in amerikanisch bläserlastiger Orchesterphysiognomie noch in den weiten landschaftlichen Gegebenheiten Oberösterreichs, woran sich Wiens Philharmoniker orientieren, wenn ein Franz Welser-Möst die Geschicke steuert oder Christian Thielemann in die Fußstapfen Wilhelm Furtwänglers zu treten meint. Järvi braut seinen Bruckner nach dem ‚Reinheitsgebot’. Bei ihm lassen sich Emotion und Clarté zu einer überzeugenden Einheit binden. Man darf gespannt sein, welches interpretatorisches Profil in den anderen Sinfonien zum Vorschein kommen. So alltäglich Bruckner-Interpretationen auch immer geworden sind – zu einer Herausforderung werden sie immer wieder. Die Hessischen Rundfunksinfoniker scheinen ihr in jedem Fall gewachsen zu sein. Dafür spricht ihr niveauvoll virtuoses Spiel.
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