Beethovenfest Bonn Der Klassiker als Anarchist
2009
Der wunderbare estnische Dirigent Paavo Järvi schöpft aus einem tiefen Stausee kultureller Einflüsse: Russische Seele, skandinavische Herbheit, europäischer Reichtum.
In diesem Sommer wurde Salzburg für ein paar Tage zur Hansestadt. Die Festspielbesucher sagten ihrem Hotelportier nicht, sie gingen zu den Wiener Philharmonikern, sondern: »Sind heute wieder bei den Bremern.« Im Zyklus hörten sie alle neun Sinfonien von Ludwig van Beethoven, gespielt von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Pärvi, und nicht wenige kamen nachts ins Hotel zurück, waren völlig durcheinander und brauchten einen Schlummertrunk. So überrumpelnd rhythmisch, dramatisch durchpulst und zugleich rhetorisch geschärft war der Beethoven, den sie gehört hatten – eine sinfonische Sensation bei den diesjährigen Festspielen.
Beethoven, von Järvi interpretiert, ist mehr Anarchist als Klassiker-Autorität. Einer, der nur spielen will und so reden, dass ihn wirklich jeder versteht. Eine New Yorker Zeitung schrieb, dies sei »der endgültige Beethoven«. Wer diese Bremer Eroberung von Salzburg verpasst hat, kann sie jetzt an einem ähnlich erhabenen Ort nachholen: in Beethovens Heimatstadt Bonn, beim Beethovenfest. Vom 9. bis 12. September stehen wieder alle Neune auf dem Programm.
Musikkundige Portiers hören es beim Namen Järvi nicht klingeln, sie hören das Geläut eines nordischen Doms. Da ist Neeme Järvi, der estnische Altmeister unter den Pultstars, Schüler des legendären Jewgeni Mrawinski und ein Herkules im Aufnehmen unbekannter Literatur. Und da sind seine beiden dirigierenden Söhne Paavo (geboren 1962) und Kristjan (geboren 1972).
Paavo, der Grammy-Gewinner, macht an mehreren Ort zugleich Karriere. Er ist Chefdirigent in Bremen, beim Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks in Frankfurt und beim Cincinnati Symphony Orchestra. 2010 wird er obendrein Nachfolger von Christoph Eschenbach beim Orchestre de Paris. Alle großen Orchester reißen sich um ihn und seine eine einzige Klage ist: »Dass ich diese schweren Partituren durch die Welt schleppen muss!«
Ob Paavo seinem Vater Neeme an Popularität den Rang abgelaufen hat, ist die falsche Frage bei einem beinahe innigen Familienbetrieb; die Järvis sind nicht die Kleibers. Vom Vater habe er fast alles gelernt, erzählt Paavo Järvi: »Vor allem begriff ich, dass man als Dirigent, auch wenn man ein Werk wie im Schlaf beherrscht, nie den Autopiloten einschalten darf. Das hat mein Vater auch nie gemacht.«
Beide verbindet die fast manische Neigung, selbst in der Anspielprobe kurz vor dem Konzert noch den Teufel im Detail zu suchen. Außerdem warnte ihn der Papa, dass er, der Sohn, es irgendwann mit Beethoven zu tun haben werde: »Beethoven ist der ultimative Test für einen Dirigenten. Mit Beethoven wird man nie fertig.« Deshalb wolle er bei Beethoven, bekennt Järvi im ironischen Brustton der Überzeugung, »alles richtig machen«. Das klingt langweilig, als müsse ein patenter Lernerfolg bewiesen und eine Art Rückversicherung auf den Vater und die Tradition gegeben werden. In Wirklichkeit macht Paavo Järvis Beethoven nichts als spirituelles Vergnügen.
Estland ist für ihn ein Taufbecken, auf dessen Grund keiner so leicht sieht. Vieles kommt in dem kleinen Land zusammen: russische Seele, skandinavische Herbheit, europäischer Reichtum und heimische Individualität, die jedes Kolonialdenken erfinderisch abwehrt. Fortwährend bringt es bedeutende Komponisten hervor, die bekanntesten sind Arvo Pärt und Erkki-Sven Tüür. Es herrscht ein Klima aus Aufbruch und Eigensinn. Järvi lächelt: »Bei nur einer Million Einwohner haben wir sieben bis acht berühmte Komponistennamen zu bieten. Nennen Sie mir acht belgische Komponisten, die ich kenne!«
Dass er Dirigent werden und darin seinem Vater folgen wollte, hatte für Paavo Järvi schon früh festgestanden. Als Segen erwies sich die Übersiedlung der Familie in die USA, damit Paavo am Curtis Institute und in Los Angeles bei Leonard Bernstein weiterstudieren konnte. Es war die Begegnung mit Bernstein, die ihm die Gewissheit gab, nicht umkehren zu müssen. Dass Järvi selbst früh als fabelhafter Rhythmiker identifiziert wurde, lag an seinem zweiten Studienfach – Schlagzeug. Wenn immer es das Heimweh, die Semesterferien und die Flugpläne zuließen, reiste Järvi nach Tallinn, saß hinten in Tüürs Rockmusik-Gruppe In Spe und trommelte verzwickte Rhythmen, so stoisch und gelassen, wie man es von einem Perkussionisten erwartet. Das ist lang her.
In diesem Herbst wird Paavo Järvis Beethoven-Sinfonien-Zyklus mit der Bremer Kammerphilharmonie auch komplett auf CD vorliegen. Aber auf Beethoven festgelegt werden möchte er trotzdem nicht. Seine Diskografie beschreitet den üblichen Parcours von Chefstücken, die sich keiner entgehen lässt: Strawinskys Sacre du Printemps, Bruckners 7. Symphonie E-Dur, Tschaikowskis 6. Symphonie h-moll, die Konzerte für Orchester von Bela Bartók und Witold Lutoslawski.
Demnächst will er sich an Schumann probieren, »da haben wir exzessive, neurotische Ausdrucksbereiche, die sehr weit von Beethoven entfernt sind«. Fraglos ist es für den klangsinnlichen Dirigenten komfortabel, ja luxuriös, drei Orchester zu leiten: hier die selbstverwalteten Bremer, die mit historischer Aufführungspraxis vertraut sind und jedes Instrument wie einen Solitär führen; dort das trotz seiner Virtuosität etwas unterschätzte, extrem offene Orchester des Hessischen Rundfunks; schließlich das Orchestra aus Cincinnati, das Järvi eine »Lokomotive« nennt, die perfekt und etwas zu unpersönlich funktioniere. Die Musiker hätten zu wenig eigene Meinung, »sie wollen immer Anweisungen von mir«.
Anders an der Weser. »Meine Bremer wollen alles verstehen, sie wollen Musik radikal auf den Grund gehen«, sagt Järvi, »und manchmal unterbrechen sie mich, nicht ich sie.« Birgt sein Repertoire nicht trotzdem die Gefahr der Gleichförmigkeit? Gefahr erkannt, beteuert der Este mit dem US-amerikanischen Pass: »Es wird keinen Järvi-Sound geben. Der Sound entsteht aus den Partituren.«
http://www.zeit.de/2009/38/Portraet-Jaervi
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