Aus dem Geist der Vergangenheit die Zukunft malen
Die Welt
20.02.2013
Von Kai Luehrs-Kaiser
Sprengstoff im Mondenschein: Paavo Järvi und die Kammerphilharmonie Bremen verwildern Schumanns Orchesterwerke kongenial
Schumann, der Rätselhafte. Der Hans-guck-in-die-Luft war kein Hans-Dampf-in-allen-Gassen. Umwölkt, unumstritten, mag sein. Doch schon sein umnachtetes Spätwerk wird gern angezweifelt. Referenzaufnahmen der Hauptwerke zu finden, ist schwer und lenkt schon bei pianistischen Wunderwerken wie "Kreisleriana" oder "Kinderszenen" auf die immer selben, ewigen Verdächtigen hin: auf Richter und Horowitz, Wilhelm Kempff und Martha Argerich. Wer kann, der kann. Die anderen haben Schwierigkeiten.
http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article113765781/Aus-dem-Geist-der-Vergangenheit-die-Zukunft-malen.html
20.02.2013
Von Kai Luehrs-Kaiser
Sprengstoff im Mondenschein: Paavo Järvi und die Kammerphilharmonie Bremen verwildern Schumanns Orchesterwerke kongenial
Schumann, der Rätselhafte. Der Hans-guck-in-die-Luft war kein Hans-Dampf-in-allen-Gassen. Umwölkt, unumstritten, mag sein. Doch schon sein umnachtetes Spätwerk wird gern angezweifelt. Referenzaufnahmen der Hauptwerke zu finden, ist schwer und lenkt schon bei pianistischen Wunderwerken wie "Kreisleriana" oder "Kinderszenen" auf die immer selben, ewigen Verdächtigen hin: auf Richter und Horowitz, Wilhelm Kempff und Martha Argerich. Wer kann, der kann. Die anderen haben Schwierigkeiten.
Für die vier Symphonien eine
klassische Gesamtaufnahme zu finden, grenzt an Unmögliches. Alle
dirigierten sie. Doch Karajan und Solti geriet Schumann zu logisch
windschnittig. Bei Bernstein klingt es zu schweißnass. Am ehesten Szell,
Kubelik und Konwitschny trafen die klassisch gesetzte, weniger gut die
wetterleuchtend weltabgewandte Seite dieser Musik. Harnoncourt, Gardiner
und andere Spezialisten des Darmsaitenkatarrhs wiederum rauten den
revolutionären Kern dieser Zukunftsmusik auf. Die Baustelle Schumann
blieb bestehen.
Erst dem Letten
Paavo Järvi mit der Kammerphilharmonie Bremen gelang jetzt eine kluge,
ebenso stürmische wie gefasste Synthese aus Aufbruch und Verzögerung,
Vision und Traumata. Deutlich, vielleicht sogar zu deutlich ist die
Beethoven-Nachfolge zu hören: als der Fels, auf dem diese Werke stehen
und deren eherne Zukunftsgewissheit sie kantabel auflösen, verklären und
in Frage stellen. Ein Griff von den Sternen nach der Erde. Aus
schwindelnden Höhen auf festen Grund.
"Das
Missverständnis", so Paavo Järvi im Extrazimmer eines Hotels am Berliner
Gendarmenmarkt, "liegt darin, dass man Schumann für einen schwachen
Orchestrator hält." Mit diesem Vorurteil sei er aufgewachsen, so Järvi,
"ich kann es schon nicht mehr hören." Tatsächlich müsse man konzedieren,
dass Beethoven akribisch um jede Note, um jede Linie und jeden Ausdruck
gerungen habe. Schumann dagegen geht es "ums große Ganze".
Man dürfe sich
nicht "an den Details verpuzzeln", sondern müsse "balancieren",
philosophiert Järvi. Auf die Freiheiten komme es an, die man sich nehmen
muss. Freie Deutungen für einen freien Geist? "Bei Beethoven hatten wir
es leichter", so Järvi ehrlich. "Denn Beethoven wird immer zu laut
gespielt. Das konnten wir anders machen." Im Schwung des schwindelnden
Entwurfs gelingt ihm und seinem Orchester dennoch ein Schumann-Coup,
gerade weil er den großen Vertrackten als Zukunftsmaler aus dem Geist
der Vergangenheit liest.
Schon Beethoven
hatten Järvi und die Kammerphilharmonie Bremen zuvor zu großem
Aha-Effekt verholfen. Im Feuersturm aktueller Beethoven-Zyklen – neben
Järvi laborierten auch Giovanni Antonini, Jos van Immerseel, Osmo
Vänskä, Riccardo Chailly, Christian Thielemann und Daniel Barenboim an
entsprechenden Gesamtaufnahmen – war es Paavo Järvi gelungen, einen
transparenteren, dabei glühend exzessiveren und unwetterhaften Beethoven
vorzuführen als wohl jemals zuvor. Vulkanisch wie Furtwängler. Aber
fein angezogen wie Strawinsky.
So wild und
unbezähmt dieser Beethoven klang, so "unkastriert", weil um seine
depressiven Anwandlung unbetrogen wirkt jetzt auch der (kleinere)
Schumann-Zyklus. Das profiliert einen Dirigenten, der bislang ebenso
sehr im Ruf der Umtriebigkeit wie der Überehrgeizigkeit stand. Järvi
nämlich ist unbedingt nicht der Universalist, als der er sich gibt.
Sondern ein Spezialist des "Bread-and-Butter-Repertoires".
Geboren in Riga
als ältester Sohn des Dirigier-Altroutniers Neeme Järvi (75), zehn Jahre
jünger als sein Bruder, der US-Strahlemann Kristjan Järvi (40), scheut
sich Paavo Järvi nicht, zeitweilig vier Orchester gleichzeitig zu
leiten. Neben dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt (wo sein Vertrag
aktuell ausläuft) leitet er noch das Orchestre de Paris und ab 2015 das NHK Symphony Orchestra in Tokio.
Das ist
rekordverdächtig und lässt sich damit erklären, dass der Erfolg mit der
kleineren Kammerphilharmonie (die er 2004 von Daniel Harding übernahm)
so groß ausfiel, dass dies Paavo Järvis Renommee als Dirigent großer
Sinfonieorchester zu beeinträchtigen begann. Ein erstaunlicher Fall von
dirigentischer Überkompensation.
Schon als Chef
beim Cincinnati Symphony Orchestra (2001-2011) hatte er "darauf
bestanden, zwei CDs pro Jahr zu machen", so gibt er zu. "Es sind meine
Postkarten aus fremden Ländern", scherzt er. So bringt es seine
Diskografie – erstaunlich für einen heute 50-Jährigen – auf inzwischen
rund 70 CDs! Wobei sich Järvi um so mehr als Spezialist für kleinere
Besetzungen erwies, je mehr er deren Unterschied bestritt.
"Kammerorchester, das heißt nicht klein", insistiert er. "Sondern meint
eine spezifische Kammermusik-Haltung gegenüber der Musik." Gerade habe
er so die 15. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch aufgeführt. Geht sehr
gut. Durchhörbarer, nicht dick.
Mit der neuen,
soeben erschienenen Schumann-Postkarte mit der 2. Sinfonie und vier
großen Ouvertüren profiliert sich die Deutsche Kammerphilharmonie unter
Leitung Järvis als das wohl international konkurrenzfähigste und
modernste Kammerorchester in Deutschland.
Man zeigt Schumann, den Romantiker, ebenso dramatisch knifflig wie
süffig und brachial. Als musikalischen Vergangenheitsbewältiger ohne den
Gestrigkeit und ohne die Schnappatmung der historischen
Aufführungspraxis. Es ist Sprengstoff im Mondenschein. Ein nervöser
Neuerer ohne akademische Weihen. Wilder war Schumann nie.
Schumann: Symphonie Nr. 2, Ouvertüren zu "Manfred", "Hermann und
Dorothea", "Braut von Messina" und "Genoveva"; Deutsche
Kammerphilharmonie Bremen, Ltg. Paavo Järvi (Sony)
http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article113765781/Aus-dem-Geist-der-Vergangenheit-die-Zukunft-malen.html
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