"Dirigieren ist wie guter Sport"
Hamburger Abendblatt
22.02.2013
Der Dirigent Paavo Järvi gastiert in Hamburg. Ein Gespräch über Kompromisse in der Oper, sein Programm und die Kunst des seelenvollen Dirigierens
Foto: © Julia Baier
http://www.abendblatt.de/kultur-live/article113821640/Dirigieren-ist-wie-guter-Sport.html
22.02.2013
Der Dirigent Paavo Järvi gastiert in Hamburg. Ein Gespräch über Kompromisse in der Oper, sein Programm und die Kunst des seelenvollen Dirigierens
Foto: © Julia Baier
Hamburg. Man könnte es für müde halten,
das Raubtier. Die Vormittagsprobe ist vorbei, jetzt steht für Paavo
Järvi die rituelle Auszeit am Konzerttag an: Essen, Siesta. Ein
Interview ist vermutlich nicht das, was er jetzt dringend braucht. Aber
in den schmalen blauen Augen, hinter seinen fast schleppend formulierten
englischen Sätzen lauert Wachsamkeit; unter dem Bariton mit der
baltischen Färbung brodelt es wie ein hubraumstarker Motor.
Järvi ist durch und durch Dirigent,
seit er als Junge beschloss, es seinem Vater, dem berühmten estnischen
Dirigenten Neeme Järvi, gleichzutun. Um früh Orchestererfahrung zu
sammeln, lernte er Schlagzeug. Seine stilistische Vielseitigkeit hat
seine Karriere befeuert. Er ist Chefdirigent des Orchestre de Paris und
des hr-Sinfonieorchesters in Frankfurt; mit der Deutschen
Kammerphilharmonie Bremen, deren Chef er 2004 wurde, eilt er von einem
Welterfolg zum nächsten. Freitagabend ist er mit dem Ensemble und den
vier Sängern vom Hilliard Ensemble beim Festival Lux aeterna zu Gast.
Hamburger Abendblatt:
Herr Järvi, es ist etwas Geheimnisvolles um den Dirigentenberuf. Ist da Magie im Spiel?
Paavo Järvi: Nun
ja - zunächst mal erfordert Dirigieren eine Menge Wissen und Technik,
akademisches und musikalisches Studium. Aber alles zusammen funktioniert
nur, wenn derjenige außerdem eine natürliche Begabung dafür hat.
Kann man Charisma lernen?
Järvi: Was ist denn das überhaupt? (Pause, er kaut) Ich
wünschte, es wäre mehr Leuten klar, dass es auch um Handwerk geht.
Viele glauben, wenn jemand musikalisch ist, kann er auch dirigieren.
Was man hört, klingt häufig viel besser, als der Dirigent schlägt!
Järvi: Es ist
oft schwer zu sagen, ob das, was man hört, mit dem Dirigenten oder eher
gegen ihn entstanden ist. Wenn man einem Orchester nicht hilft, spielt
es halt allein. Da kann ein junger Dirigent schon mal auf die Idee
kommen, er wäre ganz toll, weil das Orchester so gut klingt.
Wie machen das denn
die Orchesterleiter, die keine ausgebildeten Dirigenten sind und
trotzdem faszinierend Musik machen? Gerade in der Barockszene ist das
sehr verbreitet.
Järvi: Ich
höre lieber jemandem zu, der mit einer limitierten Dirigiertechnik Musik
macht, als einem brillanten Techniker, der nichts zu sagen hat.
Wenn man Sie mit der Kammerphilharmonie hört, ist der Einfluss der historischen Aufführungspraxis deutlich zu merken.
Järvi: Für
mich ist die historische Aufführungspraxis nicht Selbstzweck, sondern
eine zusätzliche Informationsschicht. Wir leben in einer anderen Zeit
als Beethoven, wir haben andere Musik gehört. Alles ist erlaubt. Die
einzige Grenze ist unsere eigene Fantasie.
Was ist denn Ihre Leitlinie bei der Interpretation?
Järvi: Am
Anfang versucht man, dem Komponisten so nahe wie möglich zu kommen. Der
Komponist ist der Schlüssel. Aber dann merkt man bald, dass der
Komponist viele Fragen offengelassen hat.
Gehen Sie auch in die Bibliotheken und studieren Handschriften?
Järvi: Nein.
Ich verlasse mich auf Leute, die wissen, wovon sie reden. Auch wenn ich
nicht alles so mache, wie sie es sagen. Wenn Sie einen langsamen Satz
aus einem Mozart-Violinkonzert spielen, können Sie über Verzierungen und
über die Wahl der Tempi lesen. Soll ein Auftakt kurz sein oder lang,
und was bedeutet es, dass ein Punkt darüber steht? Das sind leere
Worthülsen! Sie müssen Mozarts Opern lieben. Hören Sie nur, wie
herzzerreißend Mozarts Heldinnen "Ach!" singen. Wenn man das verstanden
hat, braucht man kein Buch.
Warum dirigieren Sie eigentlich keine Opern?
Järvi: Oper
ist die großartige Kunst des Kompromisses, und darin bin ich nicht so
gut. Bringen Sie mal Sänger, Regisseure, Chor, Orchester, Tänzer,
Beleuchter, Bühnenbildner zusammen. Um etwas wirklich Gutes zu schaffen,
braucht man eine Truppe von einem einheitlich hohen Niveau.
Das können Sie mit einem Konzertorchester leichter erreichen.
Järvi: Ja,
aber auch dort gibt es ein Zeitproblem. Wenn man nicht gerade der
Chefdirigent des Orchesters ist, wird man immer als Gast angesehen. Die
Musiker wissen, am Ende der Woche ist er nicht mehr hier. In dieser
einen Woche werden sie nicht an ihren Gewohnheiten rütteln. Deswegen
mache ich nicht gerne Gastdirigate. Meine drei Orchester sind mir nah.
Wir haben unsere gemeinsame Geschichte.
Wie lange brauchen Sie, um herauszufinden, ob es mit einem Orchester funkt?
Järvi: Das
weiß man fast sofort. Orchester haben verschiedene Geschmäcker. Manche
schätzen Effizienz. Andere suchen eher jemanden, der zuhört und einen
kammermusikalischen Ansatz pflegt. Ich schätze Musiker mit starker
Persönlichkeit, mit eigenen Ideen.
Deshalb sind Sie schon so lange mit der Kammerphilharmonie verbandelt.
Järvi: Bei
der Kammerphilharmonie ist jeder Einzelne in die musikalischen Prozesse
eingebunden. Dieses Verständnis von Demokratie macht das Orchester
einzigartig für mich.
Ihr
Lux-aeterna-Programm reicht, in unterschiedlichen Besetzungen, vom
Mittelalter bis in die Gegenwart. Wo ist da der rote Faden?
Järvi: Oh,
der ist eher lose. Man könnte von einer Art Spiritualität sprechen.
Nichts streng Religiöses. Bei der Reformationssinfonie von Mendelssohn
ist der Bezug natürlich offensichtlich.
Wo leben Sie eigentlich zurzeit? Im Flugzeug?
Järvi: Ich fürchte, ja. Meine Basis ist Florida, meine Kinder leben in Cincinnati, ich arbeite in Europa.
Machen Sie denn hin und wieder Sport?
Järvi: Ich dirigiere! Das ist ein sehr guter Sport.
Konzert The
Hilliard Ensemble, Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Paavo Järvi:
Fr 22.2. 20.00, Laeiszhalle, Karten unter T. 35 76 66 66
http://www.abendblatt.de/kultur-live/article113821640/Dirigieren-ist-wie-guter-Sport.html
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