Er mag es direkt

landbote.ch
Susanne Kübler
2.10.2019

Heute startet Paavo Järvi als Chefdirigent des Zürcher Tonhalle-Orchesters: mit Humor, Lust auf viel Arbeit und einem Werk, das hier noch nie gespielt worden ist.


Paavo Järvi, was lernen Sie von Ihren beiden Töchtern? «Wieder Kind zu sein und ein bisschen weniger diplomatisch. Teenagertöchter sagen sehr direkt, was sie denken, und manchmal braucht man das.» Welchen Rat hätten Sie als estnisch-amerikanischer Doppelbürger für Donald Trump? «Zurücktreten. So schnell wie möglich.» Können Sie tanzen? «Nicht so gut, wie ich möchte. Und wenn ich etwas nicht sehr gut kann, bin ich immer ein bisschen befangen. Deshalb schaue ich lieber zu.»

Die Antworten kommen schnell bei diesem Gespräch im Foyer der Tonhalle Maag, dabei ist Paavo Järvi eigentlich müde. Dieser Jetlag! Eben erst ist er aus Tokio zurückgekommen, auch dort ist er Chefdirigent, beim NHK Symphony Orchestra. Und nun hat er den ganzen Tag geprobt mit dem Tonhalle-Orchester Zürich.

Das allerdings hat ihn nicht müde gemacht, sondern glücklich. Schon zu Beginn, da haben die Musikerinnen, Musiker und das Management-Team «Luegid vo Bärg und Tal» gesungen für ihn, «mit Alphorn, ich war gerührt». Und dann hätten sie wirklich gut geprobt, «kein Zögern, straight on, direkt auf die Musik los – so mag ich das».

Hohe Erwartungen

Auch die Zürcher mögen ihn, seit er 2017 als neuer Tonhalle-Chefdirigent vorgestellt wurde. Seine Wahl bedeutete eine Erlösung nach dem missglückten Intermezzo mit Lionel Bringuier, denn Järvi hat alles, was man sich wünschen kann von einem Chef: viel Erfahrung, einen exzellenten Ruf, originelle Programmideen; dazu einen ausgeprägten Sinn für Humor und eine Grundsympathie, die einen sofort für ihn einnimmt.

Die Erwartungen an ihn sind entsprechend hoch, und sie sind noch gestiegen nach den ersten, kurzfristig ins Programm gequetschten Konzerten, in denen er die Tonhalle-Musiker wie auch das Publikum elektrisiert hat. Luzid und warm klangen die Werke von Olivier Messiaen, die nun pünktlich zu seinem Amtsantritt auf CD erscheinen. Und Beethovens Sinfonie Nr. 1 hat einen fast vom Stuhl gefegt.

Beim offiziellen Eröffnungskonzert gibts nun aber keinen Beethoven, kein «Freude schöner Götterfunken», auch sonst nichts, was Dirigenten gern aus der Schublade ziehen, wenn sie irgendwo ein neues Amt antreten. Järvi hat sich für «Kullervo» entschieden, für ein episches, chorsinfonisches Werk also, das noch nie in einem Tonhalle-Programm aufgetaucht ist. Seltsam findet er das, «es ist ja immerhin von Sibelius!».

Aber ihm ist es recht so, eine Entdeckung passt bestens für einen festlichen Neustart, und es macht gar nichts, dass in der «Kullervo»-Legende am Ende alle tot sind. In der Kunst gehe es nun mal nicht nur um «Feel-Good-Momente», sagt Järvi, «in der Oper wird ja auch dauernd gestorben, und niemand stört sich daran». Entscheidend sei, ob die Musik gut sei, ob die richtigen Interpreten zur Verfügung stünden, ob die Programmwahl die erwünschten Signale aussende. In diesem Sinn ist «Kullervo» tatsächlich ein perfekter Start: Järvi will mit den Zürchern auch in Zukunft immer wieder jene «interessanten Ecken» aufsuchen, in denen sich Werke verstecken, die zu selten gespielt werden.

Start als Rockschlagzeuger


Oft befinden sich diese Ecken im Norden. Denn Järvi wurde 1962 im estnischen Tallinn geboren, als Sohn des Dirigenten Neeme Järvi. Dass auch er Dirigent werden wollte, war früh klar. Gestartet ist er dann aber als Schlagzeuger, nicht nur im Orchester, sondern auch in einer eigenen Rockband.

Er korrigiert dann nebenbei gleich den Wikipedia-Eintrag, in dem steht, dass er in Erkki-Sven Tüürs legendärer Band In Spe gespielt habe: «Tüür ging mit mir in die Schule, und sie hatten mich tatsächlich eingeladen, mitzumachen, aber genau da wanderte meine Familie in die USA aus.» Richtig ist dagegen, dass der Kontakt zu Tüür eng blieb; dieses Jahr besetzt dieser den Creative Chair in der Tonhalle Maag.

Auch sonst bringt Järvi Verbündete mit nach Zürich. Zum Eröffnungskonzert wird Arvo Pärt anreisen, der estnische Kult-Komponist, den er schon als Kind kennen gelernt hat, weil er halt zu Besuch war bei den Järvis (genau wie Dmitri Schostakowitsch und viele andere). Pärt liefert das zweite Stück des Abends mit dem schönen Titel «Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte ...». Und neben dem Podium jenen Schalk, den Järvi so mag an ihm: «Sie müssen ihm nur in die Augen schauen, da sieht man alles.»

«Unter den erwachsenen Järvis gibt es wohl niemanden, der nicht Musiker ist.»Paavo Järvi

Ist Musizieren also eine familiäre Angelegenheit? Klar, sagt Järvi. Am ausgeprägtesten gilt das bei seinem Festival im estnischen Pärnu, bei dem in den Orchestern und Ensembles jeweils rund zwanzig Järvis vertreten sind: Geschwister, Cousinen, deren Kinder, «es gibt zumindest unter den erwachsenen Järvis wohl niemanden, der nicht Musiker ist».

Auch bei den Orchestern ist ihm die familiäre Atmosphäre wichtig, und gefunden hat er sie vor allem in Bremen. Seit zwanzig Jahren leitet er die dortige Kammerphilharmonie, die sich unter seiner Leitung in Bereiche hochgespielt hat, die man ihr zuvor nicht zugetraut hätte. Und er wird weitermachen dort, genau wie in Tokio; beim Tonhalle-Orchester tritt er also seinen dritten Chefposten an.

Respekt für Greta

Damit wären wir wieder beim Jetlag, und bei der Frage, wie denn die Dirigenten-Fliegerei zusammenpasse mit Greta Thunbergs Rede, die Järvi kürzlich vertwittert hat. Ein Widerspruch, er will ihn gar nicht schönreden. Also spricht er davon, wie sehr es ihn beeindruckt, dass da ein Teenager mehr bewirke als all die mächtigen Politiker und Businessmen, «einfach, weil sie fokussiert ist, weil sie wirklich glaubt an das, was sie tut».

Er selbst stellt immerhin das Wasser ab, wenn er die Zähne putzt. Verzichtet darauf, für glamouröse Gastspiele kreuz und quer durch die Welt zu jetten, wofür er sowieso keine Zeit hätte neben den festen Verpflichtungen. Und tut ansonsten, was er kann, um jene «innere Kultur» zu vermitteln, an die er glaubt. «Wenn die Politiker heute so sind, wie sie sind, dann doch auch darum, weil sie vieles nicht mitbekommen haben», sagt er. Was da fehlt, die Empathie, die Menschlichkeit, aufeinander hören: Das könne man unter anderem in der Musik lernen.

Auch in Zürich übrigens. Dass die Zukunft der Tonhalle Maag auf der Kippe steht, findet Järvi schade: «Büros kann man überall bauen, einen solchen Konzertsaal nicht.» Ein guter Ort sei das, «mit einer guten Energie». Sonst kann er noch nicht viel sagen zur Stadt, neben dem Saal kennt er bisher nur sein Hotel. Aber das soll sich ändern, «bitte schreiben Sie das: Wenn jemand Tipps hat für gute kleine Restaurants, für schöne versteckte Orte, also für Dinge, die das Tourismusbüro nicht weiss – unbedingt melden.»

Wenn umgekehrt jemand einen Tipp braucht, wo sich in nächster Zeit das Hinhören lohnt: Dann wäre die Adresse die Tonhalle Maag.

https://www.nzz.ch/feuilleton/einstand-paavo-jaervi-beim-tonhalle-orchester-zuerich-da-lacht-die-sphinx-ld.1512356

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