Paavo Järvi in Zürich: Jetzt beginnt das Abenteuer
nzz.ch
Christian Wildhagen
31.10.2019
Paavo Järvi bei seinem Antrittskonzert in Zürich, Anfang Oktober, mit Mitgliedern des Tonhalle-Orchesters. (Bild: Gaëtan Bally / Tonhalle Zürich)
Wer Wind sät, wird Sturm ernten – so weiss es bereits das Alte Testament. Und so tat es Paavo Järvi, der soeben erfolgreich bestallte Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich: Er säte Wind und öffnete auch gleich noch die imaginären Fenster des Konzertsaals, um die frische Luft einer neuen Zeit hereinwehen zu lassen in die der Durchlüftung und Erfrischung überaus bedürftige Tonhalle Maag.
Järvi tat es am Mittwoch wortwörtlich: mit dem 2015 von ihm in Paris uraufgeführten Stück «Sow the Wind . . .» seines estnischen Landsmannes Erkki-Sven Tüür, der während der Konzertsaison 2019/20 den «Creative Chair» der Tonhalle innehat. Knapp zwanzig Minuten lang entfacht Tüürs Tongemälde aus anfänglichem Säuseln und Wehen einen veritablen Höllensturm: Da bläst und tost es, dass der Saalboden vibriert; dazwischen aber vernimmt man das Summen von riesigen Bienenschwärmen, ein Glucksen von wilden Bächen, ein Oszillieren des Lichts in zerzausten Baumkronen, wie man es aus den besten Naturmusiken der Romantik kennt. Und prompt ist danach die Atmosphäre im Raum wie ausgewechselt. Hört doch, scheint Järvi dem verdutzten Publikum zuzurufen: So aufregend, so beredt kann zeitgenössische Musik klingen!
Euphorie des Anfangs
Järvi lüftet bei den jüngsten beiden Konzerten, seinem zweiten und dritten Programm seit Amtsantritt, freilich auch in übertragenem Sinne gründlich durch. Und zwar von Anfang an. Da gibt es kein Zögern, kein behutsames Abtasten der Möglichkeiten; das Orchester und sein neuer Chef kennen sich bereits seit gut einem Jahr – entsprechend geht es in medias res. Schon am vergangenen Freitag, bei Peter Tschaikowskys grosser Orchesterfantasie «Francesca da Rimini», die den furiosen Auftakt bildet für einen Tschaikowsky-Schwerpunkt, in dessen Rahmen unter anderem alle sechs Sinfonien aufgeführt und mitgeschnitten werden sollen.
Auch in dieser ausladenden Tondichtung nach Dantes «Göttlicher Komödie» stürmt es infernalisch – kein Zufall gewiss, wenn man Järvis raffinierte Programmkonzeptionen an früheren Wirkungsstätten kennt. Und auch hier regen sich zwischendrin lieblichere Töne, die das Orchester mit lange so nicht mehr gehörter Klangsinnlichkeit auskosten darf. Järvi belebt und aktiviert quasi mit dem ersten Takt das gesamte Ausdrucks- und Dynamikspektrum: vom Pianissimo-Hauch bis zum druckvoll-gestützten dreifachen Forte, und schlagartig wirkt es, als sei der gräuliche Schleier, der sich nach und nach über den edlen, warmen Klang des Tonhalle-Orchesters gelegt hatte, buchstäblich weggeblasen.
Mitunter geht dieser Ansatz, der den Klangraum bis in dynamische Extreme auslotet, sogar über die akustischen Möglichkeiten der Maag-Halle hinaus. Womöglich hat Järvi dabei grössere Säle wie die Pariser Philharmonie im Sinn (wo er lange gewirkt hat) oder bereits die historische Tonhalle am See, wohin man im März 2021 gemeinsam zurückkehren will. Der leichte Überschwang, der sich in beiden Konzerten manifestiert, ist sicher auch dem euphorischen Geist dieser Anfangszeit geschuldet, in der das Orchester spürbar jede Erinnerung an die vergangenen Krisenjahre vergessen machen will.
Sinfonische Erzählungen
Zugleich hat die Intensität, mit der hier gemeinsam musiziert wird, etwas unmittelbar Mitreissendes. Das kommt einem oft geschundenen Werk wie Tschaikowskys Vierter zugute. Deren stilistische Gegensätze zwischen Tragik, Fatalismus, Tanz- und Zirkusmusik mildert Järvi nicht etwa ab, er kostet sie in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit aus. Das ist ein Drahtseilakt, den Järvi aber mit einer aussergewöhnlich klaren Formdisposition und deutlich unterschiedenen, meist straffen Tempi meistert. Zudem lässt er die einzelnen Sätze ohne längere Räusperpausen aufeinanderfolgen; dahinter steht offenkundig die Idee einer übergreifenden sinfonischen Erzählung, die das jeweilige Werk als Ganzes, als dramaturgische Einheit fassbar macht.
Besonders bezwingend gelingt dies bei Tschaikowskys «Pathétique», die das Mittwochskonzert beschliesst. Über die nahezu ohne Unterbrechung ineinandergreifenden vier Sätze spannt sich ein atemberaubender Bogen – von der requiemartigen Einleitung bis zum verlöschenden Herzschlag-Pulsieren der Bässe am Schluss des Finales. Dazwischen schillert die Musik in ihrer ganzen Ausdrucksfülle: leidenschaftlich, doch immer vorwärtsdrängend das Ringen im Kopfsatz; von kantabler Eleganz der ebenfalls sehr fliessende 5/4-Takt-Walzer des zweiten Satzes; mit beeindruckender Virtuosität zum (voreiligen) Triumph gesteigert der Geschwindmarsch des dritten.
Gleichwohl meidet Järvi die bei diesem durch und durch autobiografisch konnotierten Opus ultimum übliche Ergriffenheitsgeste und jegliche Larmoyanz. Vielmehr setzt er dem Schicksalsraunen nicht zuletzt klanglich klare Vorgaben entgegen: einerseits einen herrlich aufblühenden, aber bis ins Vibrato kontrollierten Streicherton; andererseits ein ungewohnt, ja manchmal irritierend scharf akzentuiertes Blech, das jede Idylle – wie später bei Schostakowitsch – bedrohlich durchkreuzt. Straff und unerbittlich führt Järvi damit seine Erzählung bis zum bitteren Ende und lässt das Publikum zunächst in atemloser Stille zurück, bevor sich Jubel Bahn bricht.
Kaffeehaus und Konzert
Abgerundet werden beide Konzerte jeweils durch konzertante Werke. Vor Tschaikowskys Vierter haucht der Schwede Martin Fröst dem einst für Benny Goodman komponierten Klarinettenkonzert von Aaron Copland dezent jazzige und impressionistische Töne ein und begeistert anschliessend noch mit einer ebenso stilsicheren Klezmer-Zugabe. Am zweiten Abend nimmt sich der Finne Pekka Kuusisto in Erstaufführungen der äusserst selten zu hörenden Humoresken und Serenaden für Violine und Orchester von Jean Sibelius an.
Diese kurzen Stücke, teilweise während des Ersten Weltkriegs zum Broterwerb entstanden, sind – wie Beethovens Violinromanzen – Nebenwerke zum grossen Solokonzert. Knapp, lakonisch, skizzenhaft. Doch Kuusisto macht daraus mit geigerischer Finesse und leicht skurriler Selbstironie Kabinettstücke einer reizvoll zwischen Kaffeehaus und Konzertsaal, zwischen Experiment und höherem Anspruch changierenden Unterhaltungsmusik. Järvi und die feinsinnig begleitenden Tonhalle-Musiker greifen diesen Ton mit Humor und Charme auf. Mehr frischer Wind ist am Beginn einer Ära kaum denkbar.
Christian Wildhagen
31.10.2019
Paavo Järvi bei seinem Antrittskonzert in Zürich, Anfang Oktober, mit Mitgliedern des Tonhalle-Orchesters. (Bild: Gaëtan Bally / Tonhalle Zürich)
Wer Wind sät, wird Sturm ernten – so weiss es bereits das Alte Testament. Und so tat es Paavo Järvi, der soeben erfolgreich bestallte Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich: Er säte Wind und öffnete auch gleich noch die imaginären Fenster des Konzertsaals, um die frische Luft einer neuen Zeit hereinwehen zu lassen in die der Durchlüftung und Erfrischung überaus bedürftige Tonhalle Maag.
Järvi tat es am Mittwoch wortwörtlich: mit dem 2015 von ihm in Paris uraufgeführten Stück «Sow the Wind . . .» seines estnischen Landsmannes Erkki-Sven Tüür, der während der Konzertsaison 2019/20 den «Creative Chair» der Tonhalle innehat. Knapp zwanzig Minuten lang entfacht Tüürs Tongemälde aus anfänglichem Säuseln und Wehen einen veritablen Höllensturm: Da bläst und tost es, dass der Saalboden vibriert; dazwischen aber vernimmt man das Summen von riesigen Bienenschwärmen, ein Glucksen von wilden Bächen, ein Oszillieren des Lichts in zerzausten Baumkronen, wie man es aus den besten Naturmusiken der Romantik kennt. Und prompt ist danach die Atmosphäre im Raum wie ausgewechselt. Hört doch, scheint Järvi dem verdutzten Publikum zuzurufen: So aufregend, so beredt kann zeitgenössische Musik klingen!
Euphorie des Anfangs
Järvi lüftet bei den jüngsten beiden Konzerten, seinem zweiten und dritten Programm seit Amtsantritt, freilich auch in übertragenem Sinne gründlich durch. Und zwar von Anfang an. Da gibt es kein Zögern, kein behutsames Abtasten der Möglichkeiten; das Orchester und sein neuer Chef kennen sich bereits seit gut einem Jahr – entsprechend geht es in medias res. Schon am vergangenen Freitag, bei Peter Tschaikowskys grosser Orchesterfantasie «Francesca da Rimini», die den furiosen Auftakt bildet für einen Tschaikowsky-Schwerpunkt, in dessen Rahmen unter anderem alle sechs Sinfonien aufgeführt und mitgeschnitten werden sollen.
Auch in dieser ausladenden Tondichtung nach Dantes «Göttlicher Komödie» stürmt es infernalisch – kein Zufall gewiss, wenn man Järvis raffinierte Programmkonzeptionen an früheren Wirkungsstätten kennt. Und auch hier regen sich zwischendrin lieblichere Töne, die das Orchester mit lange so nicht mehr gehörter Klangsinnlichkeit auskosten darf. Järvi belebt und aktiviert quasi mit dem ersten Takt das gesamte Ausdrucks- und Dynamikspektrum: vom Pianissimo-Hauch bis zum druckvoll-gestützten dreifachen Forte, und schlagartig wirkt es, als sei der gräuliche Schleier, der sich nach und nach über den edlen, warmen Klang des Tonhalle-Orchesters gelegt hatte, buchstäblich weggeblasen.
Mitunter geht dieser Ansatz, der den Klangraum bis in dynamische Extreme auslotet, sogar über die akustischen Möglichkeiten der Maag-Halle hinaus. Womöglich hat Järvi dabei grössere Säle wie die Pariser Philharmonie im Sinn (wo er lange gewirkt hat) oder bereits die historische Tonhalle am See, wohin man im März 2021 gemeinsam zurückkehren will. Der leichte Überschwang, der sich in beiden Konzerten manifestiert, ist sicher auch dem euphorischen Geist dieser Anfangszeit geschuldet, in der das Orchester spürbar jede Erinnerung an die vergangenen Krisenjahre vergessen machen will.
Sinfonische Erzählungen
Zugleich hat die Intensität, mit der hier gemeinsam musiziert wird, etwas unmittelbar Mitreissendes. Das kommt einem oft geschundenen Werk wie Tschaikowskys Vierter zugute. Deren stilistische Gegensätze zwischen Tragik, Fatalismus, Tanz- und Zirkusmusik mildert Järvi nicht etwa ab, er kostet sie in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit aus. Das ist ein Drahtseilakt, den Järvi aber mit einer aussergewöhnlich klaren Formdisposition und deutlich unterschiedenen, meist straffen Tempi meistert. Zudem lässt er die einzelnen Sätze ohne längere Räusperpausen aufeinanderfolgen; dahinter steht offenkundig die Idee einer übergreifenden sinfonischen Erzählung, die das jeweilige Werk als Ganzes, als dramaturgische Einheit fassbar macht.
Besonders bezwingend gelingt dies bei Tschaikowskys «Pathétique», die das Mittwochskonzert beschliesst. Über die nahezu ohne Unterbrechung ineinandergreifenden vier Sätze spannt sich ein atemberaubender Bogen – von der requiemartigen Einleitung bis zum verlöschenden Herzschlag-Pulsieren der Bässe am Schluss des Finales. Dazwischen schillert die Musik in ihrer ganzen Ausdrucksfülle: leidenschaftlich, doch immer vorwärtsdrängend das Ringen im Kopfsatz; von kantabler Eleganz der ebenfalls sehr fliessende 5/4-Takt-Walzer des zweiten Satzes; mit beeindruckender Virtuosität zum (voreiligen) Triumph gesteigert der Geschwindmarsch des dritten.
Gleichwohl meidet Järvi die bei diesem durch und durch autobiografisch konnotierten Opus ultimum übliche Ergriffenheitsgeste und jegliche Larmoyanz. Vielmehr setzt er dem Schicksalsraunen nicht zuletzt klanglich klare Vorgaben entgegen: einerseits einen herrlich aufblühenden, aber bis ins Vibrato kontrollierten Streicherton; andererseits ein ungewohnt, ja manchmal irritierend scharf akzentuiertes Blech, das jede Idylle – wie später bei Schostakowitsch – bedrohlich durchkreuzt. Straff und unerbittlich führt Järvi damit seine Erzählung bis zum bitteren Ende und lässt das Publikum zunächst in atemloser Stille zurück, bevor sich Jubel Bahn bricht.
Kaffeehaus und Konzert
Abgerundet werden beide Konzerte jeweils durch konzertante Werke. Vor Tschaikowskys Vierter haucht der Schwede Martin Fröst dem einst für Benny Goodman komponierten Klarinettenkonzert von Aaron Copland dezent jazzige und impressionistische Töne ein und begeistert anschliessend noch mit einer ebenso stilsicheren Klezmer-Zugabe. Am zweiten Abend nimmt sich der Finne Pekka Kuusisto in Erstaufführungen der äusserst selten zu hörenden Humoresken und Serenaden für Violine und Orchester von Jean Sibelius an.
Diese kurzen Stücke, teilweise während des Ersten Weltkriegs zum Broterwerb entstanden, sind – wie Beethovens Violinromanzen – Nebenwerke zum grossen Solokonzert. Knapp, lakonisch, skizzenhaft. Doch Kuusisto macht daraus mit geigerischer Finesse und leicht skurriler Selbstironie Kabinettstücke einer reizvoll zwischen Kaffeehaus und Konzertsaal, zwischen Experiment und höherem Anspruch changierenden Unterhaltungsmusik. Järvi und die feinsinnig begleitenden Tonhalle-Musiker greifen diesen Ton mit Humor und Charme auf. Mehr frischer Wind ist am Beginn einer Ära kaum denkbar.
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