Paavo Järvis Antrittskonzert in Zürich: Hinaus in die Exotik des hohen Nordens

nzz.ch
Thomas Schacher
3.10.2019

Der offizielle Einstand des neuen Chefdirigenten und Musikdirektors des Tonhalle-Orchesters bringt sogleich ungewohnte Klänge. So aufregend darf es weitergehen.



Euphorie des Neubeginns: Paavo Järvi bei seinem Antrittskonzert als Chefdirigent und Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich in der Tonhalle Maag. (Bild: Gaëtan Bally / Tonhalle-Orchester Zürich)

Wie fängt einer an? Und wann ist eigentlich der Anfang? War es bereits die Bekanntgabe von Paavo Järvis Wahl zum neuen Chefdirigenten und Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters im Mai 2017? Oder war es sein erster Auftritt mit dem Tonhalle-Orchester nach der Nominierung mit Werken von Liszt und Mahler? In den vier Konzerten der Saison 2018/19, des Interregnums, hatte man jedenfalls ausgiebig Gelegenheit, den «Neuen» kennenzulernen. Auf den regulären Beginn von Järvis Amtszeit musste man hingegen warten – bis jetzt.


Das regelrecht herbeigesehnte Antrittskonzert führt freilich nicht in das Reich des zentraleuropäischen Repertoires, sondern nach Ost- und Nordeuropa, in die Heimat des estnischen Dirigenten. Mit der Chorsinfonie «Kullervo» des Finnen Jean Sibelius hat Järvi gar ein Stück ausgewählt, das hierzulande fast niemand kennt und das auch das Tonhalle-Orchester noch nie gespielt hat. Zudem hatte Arvo Pärt zum Zürcher Einstand seines Landsmanns die Neufassung einer kurzen Komposition vorgelegt, die Järvi uraufführen durfte. Wahrlich ein mutiges Programm für das eher retrospektiv gesinnte Zürcher Publikum!

Fleissige Bienen


Dass an diesem Abend etwas Besonderes bevorsteht, bemerkt man schon im Foyer. Auffallend viele bekannte Gesichter sind da auszumachen, und die Garderobe der meisten Gäste strahlt in festlichem Gepräge. Bevor es dann im Saal richtig losgeht, beschwören der Tonhalle-Präsident Martin Vollenwyder und die Intendantin Ilona Schmiel im Einklang den Beginn einer neuen Ära. Schmiel freut sich besonders, Pärt persönlich und auch Neeme Järvi, den Vater des frischgebackenen Chefdirigenten, unter den Gästen begrüssen zu dürfen. Auf den besonderen Charakter des Konzerts weisen nicht zuletzt etliche Fernsehkameras hin. Der französische Fernsehsender Mezzo überträgt live, das Schweizer Fernsehen bringt am Sonntag eine Aufzeichnung im Rahmen der Sendung «Sternstunde Musik».

Nach zwei Minuten fast atemloser Stille, die der Fernsehansage geschuldet ist, tritt Järvi dann endlich ans Dirigentenpult, verbeugt sich selbstbewusst und hebt den Taktstock. Doch das Konzert beginnt nicht mit Sibelius’ abendfüllender Sinfonie, sondern mit Pärts Stück «Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte . . .», dem Pärt in der Neufassung ein Bläserquintett hinzugefügt hat. Nach diesem Sechs-Minuten-Werk, das mit dem B–A–C–H-Motiv und barocken Anklängen dem Leipziger Thomaskantor huldigt, fragt man sich allerdings, ob das wirklich ein guter Anfang war. Man muss ihn wohl aus dem Bedürfnis Järvis heraus verstehen, seine Amtszeit mit Musik aus seiner Heimat beginnen zu lassen. Gleichwohl sind Pärts fleissige «Bienen» schnell vergessen, als das Hauptstück des Abends anhebt.

Siegmund und Sieglinde

«Kullervo» ist ein Sturm-und-Drang-Werk des jungen Sibelius, der in Berlin und in Wien studiert und dabei die Musik und das Leben dieser Grossstädte in sich aufgesogen hatte. Die Sage stammt aus dem finnischen Nationalepos «Kalevala», einer Sagensammlung von Elias Lönnrot. Kullervo ist ein tragischer Held aus dem hohen Norden, der eine triste Jugend erlebt hat und die Ermordung seines Vaters rächen will. Im Zentrum des Geschehens steht eine inzestuöse Liebesgeschichte: Die junge Frau, die Kullervo auf seiner Schlittenfahrt mit Gold besticht und sexuell verführt, entpuppt sich nämlich als seine Schwester! Siegmund und Sieglinde aus Wagners «Walküre» lassen grüssen.


Der Estnische Nationale Männerchor und die Herren der Zürcher Sing-Akademie (oben auf dem Rang) unterstützen Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester bei Jean Sibelius’ «Kullervo»-Sinfonie. (Bild: Gaëtan Bally / Tonhalle-Orchester Zürich)

Sibelius hat den Stoff zu einem Werk geformt, dessen fünf Sätze einerseits rein instrumental, andererseits unter Mitwirkung von Vokalsolisten und einem Männerchor gestaltet sind. Gattungsmässig vereinigt die wilde Komposition Elemente der Sinfonie, der sinfonischen Dichtung, der Kantate und der Oper zu einer eigenwilligen Kombination. Um ihren Inhalt zu verstehen, ist die Kenntnis der Vorlage unabdingbar, was einen unmittelbaren Zugang nicht gerade einfach macht.



Die ersten beiden Sätze sind rein instrumental gehalten, und hier tritt Järvis Interpretationsansatz bereits klar zutage. Er deutet die Musik aus ihren Gegensätzen heraus: Er gibt sowohl dem saftigen Streicherklang wie den an Volksmusik gemahnenden Bläsermelodien viel Raum, lässt das Melancholisch-Dunkle in gleicher Weise aufscheinen wie die hellen Momente. Die scherzoartigen Züge nehmen dann im vierten Satz, wo Kullervo gemäss der Sage die ganze Familie seines verbrecherischen Onkels umbringt, geradezu ironische Züge an. Im Vergleich zu Esa-Pekka Salonens Referenzaufnahme mit dem Los Angeles Philharmonic nimmt sich Järvi acht Minuten mehr Zeit und scheut sich nicht, die pathetischen Momente der Partitur voll auszukosten.

Ansteckungskraft

Dies zeigt sich insbesondere im zentralen dritten Satz, der Verführungsszene. Dass die beiden vokalen Interpreten von Kullervo und seiner Schwester Sisar tatsächlich Geschwister sind, gibt der Szene ihren besonderen Reiz. Der Bariton Ville Rusanen umgarnt die Frau mit einer rhetorisch ausdrucksstarken Stimme, die Sopranistin Johanna Rusanen wehrt sich mit grosser, operngeschulter Stimme.

Das epische Element bildet der Männerchor, der in symbolträchtiger Weise den Estnischen Nationalen Männerchor (Einstudierung: Mikk Üleoja) und die Herren der Zürcher Sing-Akademie (Einstudierung: Florian Helgath) vereint. Der Chor schildert das Geschehen – die finnische Sprache scheint ihm recht locker über die Lippe zu gehen – in bald erzählender, bald beschwörender Art. Die Evokation des Inzests ist dann dem Orchester und damit der Phantasie des Publikums überlassen: Nach den Worten «Kulta kuihauttelevi» («Gold verführte die Jungfrau») folgt ein instrumentales Zwischenspiel, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.


Geschafft: erleichterte Gesichter bei Paavo Järvi und den Mitgliedern des Tonhalle-Orchesters während des Applauses. (Bild: Gaëtan Bally / Tonhalle-Orchester Zürich)

Fazit des Antrittskonzerts: Järvis Einstand ist vollauf gelungen, das Tonhalle-Orchester trägt ihn sprichwörtlich auf Händen, und die Tore für die im Verlauf der Saison angekündigten Kompositionen aus Ost- und Nordeuropa sind weit geöffnet. Bleibt zu hoffen, dass die vom neuen Chef und vom Orchester gezeigte Euphorie die nötige Ansteckungskraft beim Publikum entfalten kann.

https://www.nzz.ch/feuilleton/paavo-jaervi-antrittskonzert-in-zuerich-wilder-inzest-im-hohen-norden-ld.1513155

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