Da lacht die Sphinx: Paavo Järvi übernimmt den Stab in der Tonhalle Zürich
nzz.ch
Christian Wildhagen
2.10.2019
Nach dem Honeymoon geht’s jetzt richtig los: Der neue Chefdirigent will gezielt und dennoch überraschend an die grosse Tradition des Tonhalle-Orchesters anknüpfen.
Angekommen: Paavo Järvi, der neue Musikdirektor und Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich, in der Tonhalle Maag. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)
Es war Ilona Schmiels unbestrittenes Meisterstück und ein Paukenschlag. Im Mai 2017 präsentierte die Intendantin der Zürcher Tonhalle-Gesellschaft der staunenden Musikwelt den neuen Chefdirigenten ihres Orchesters. Dank exzellenten Kontakten in die internationale Musikbranche war es Schmiel gelungen, einen der profiliertesten, aber eben auch gefragtesten Dirigenten unserer Zeit für Zürich zu gewinnen. Damit glückte ihr ohne Frage eine spektakuläre und obendrein entscheidende Weichenstellung in einem überaus heiklen Augenblick.
Denn zur selben Zeit befand sich das Tonhalle-Orchester in der schwersten künstlerischen Krise seiner jüngeren Geschichte. In den Schlamassel, der sogar noch das 150-Jahr-Jubiläum des Orchesters 2018 überschatten sollte, war die Tonhalle während der drei Jahre vor Schmiels Befreiungsschlag geraten. Durch eigenes Verschulden, denn die gut gemeinte Idee, auf die rund zwei Jahrzehnte währende Ära von David Zinman, dem das Tonhalle-Orchester wesentlich sein überregionales Renommee verdankt, partout einen scharf kontrastierenden Neuanfang mit dem sehr jungen Franzosen Lionel Bringuier folgen zu lassen, erwies sich schon bald nach dessen Antritt als zu wenig tragfähig.
Wie schnell das Niveau des Orchesterspiels unter der Situation zu leiden begann, war eine irritierende Erfahrung. Umso mehr, als das Tonhalle-Orchester punktuell durchaus noch immer an alte Glanzzeiten anzuknüpfen wusste – wenn es denn wollte. Es wollte, vor allem bei Gastspielen von Zinman und in geradezu singulärer Weise dann bei den ersten Dirigaten des «Zukünftigen». Diese Vorab-Konzerte ab Oktober 2018 glichen vorzeitigen Flitterwochen, in denen man sich mit Nachdruck der gegenseitigen Wertschätzung versicherte und auf Anhieb so befreit, so engagiert und energiegeladen miteinander musizierte, als gelte es, die unbefriedigenden letzten Jahre umgehend vergessen zu machen. Nun aber ist auch diese Honeymoon-Phase vorbei, jetzt wird es ernst, denn von heute an gibt der «Neue», gibt Paavo Järvi als Chefdirigent und Musikdirektor seine offiziellen Antrittskonzerte in der Zürcher Tonhalle Maag.
Orchestererzieher
Järvi lacht sein charakteristisches Sphinx-Lachen, als wir zwischen zwei Proben Gelegenheit haben, über seine Wahrnehmung der verfahrenen Situation zu sprechen. Er sieht sich ausdrücklich nicht als «Retter in der Not» und möchte, ganz Profi, den Blick ohnehin lieber nach vorne richten. Aber er habe die besondere Energie, den Enthusiasmus und die Offenheit der Musiker bemerkt, die schon die ersten gemeinsamen Proben und Konzerte beflügelt hätten. «Da war eine Bereitschaft und Flexibilität zu spüren, wie ich sie vor allem von kleineren Ensembles wie der Deutschen Kammerphilharmonie kannte, weniger von einem grossen und so traditionsreichen Klangkörper wie dem Tonhalle-Orchester.» Dies habe ihm die Augen geöffnet: In dem Moment stand für ihn endgültig fest, dass die Basis für eine Zusammenarbeit gegeben war.
Die Zuversicht im Hinblick auf die künftige Zusammenarbeit mit dem Tonhalle-Orchester ist kein Zweckoptimismus. Denn auch Järvi selbst dürfte bekannt sein, was man sich in Musikerkreisen gern erzählt und gegenseitig bestätigt: dass bisher noch jedes Ensemble, bei dem er längere Zeit als Chefdirigent gewirkt hat, am Ende besser, präziser und vor allem inspirierter klang. Das galt für das Orchestre de Paris, das er von 2010 bis 2016 leitete; und es galt geradezu exemplarisch für das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks, das er zwischen 2006 und 2013 buchstäblich aus routiniertem Mittelmass in eine höhere Umlaufbahn katapultierte. Die Frankfurter Musiker dankten ihm dies – wie zuvor das ähnlich wachgeküsste Cincinnati Symphony Orchestra – mit dem Titel eines Ehrendirigenten.
Wie nachhaltig Järvi als Orchestererzieher zu wirken vermag, demonstriert nicht zuletzt die erwähnte Kammerphilharmonie mit Sitz in Bremen, deren künstlerischer Leiter er nun schon seit fünfzehn Jahren ist – eine Tätigkeit, die Järvi parallel zu den Chefposten in Zürich sowie beim NHK Symphony Orchestra in Tokio (seit 2015) beibehalten will. Die Kammerphilharmonie, 1980 als ursprünglich rein privatwirtschaftlich getragener Zusammenschluss von Musikstudenten ins Leben gerufen, zählt nach schwierigen Anfängen heute nicht nur zu den erfolgreichsten Orchesterneugründungen in Deutschland, sondern auch zu den Klangkörpern mit dem klarsten stilistischen Profil.
Als wegweisend gilt der dort mit Järvi erarbeitete Beethoven-Zyklus – eine Interpretation aus dem Geist und auf dem neuesten Stand der historischen Aufführungspraxis, aber auf überwiegend modernem Instrumentarium. Damit ist der Bremer Sinfonienzyklus zugleich eine Fortschreibung der preisgekrönten Beethoven-Einspielungen David Zinmans mit dem Tonhalle-Orchester, die bereits etliche Jahre früher einen ähnlichen Ansatz verfolgten. Järvi selbst sieht diese Kontinuität und schätzt Zinmans Beethoven als eine nach wie vor bahnbrechende Interpretation, die obendrein tief in die kollektive DNA des Orchesters eingedrungen sei. «Man hört sofort, dass hier über längere Zeit etwas Bleibendes und Eigenes erarbeitet wurde. So etwas erreicht man nicht in bloss zwei Proben und einer Aufführung. Heute gibt es leider selbst bei den besten Orchestern nur noch selten die Gelegenheit, etwas so kontinuierlich und zielgerichtet aufzubauen. Zinman und dem Tonhalle-Orchester ist da wirklich ein Meilenstein gelungen.»
Tief eingeschrieben
Wie aber will er künftig bei der Arbeit zwischen seinen Orchestern differenzieren? Wohl gerade weil die Parallelen zwischen der Arbeit in Bremen und Zürich im Ansatz, im stilistischen Empfinden und im informierten Umgang mit dem Notentext auf der Hand liegen, sieht Järvi Unterscheidbarkeit nicht als vorrangiges Kriterium an. Unterschiede seien allein schon durch die Kammerorchester-Besetzung in Bremen, aber auch durch die Persönlichkeiten der Musikerinnen und Musiker gegeben. All das manifestiere sich für ihn im Klang: «In Zürich höre ich, einmal losgelöst von Stilfragen, den grossen, satten Klang eines Sinfonieorchesters mit einer tiefen Verwurzelung in der Tradition. Das ist für mich das Eigene, mit dem ich arbeiten will. Vergleiche mit meinen anderen Ensembles bringen uns da nicht wesentlich weiter.»
Umso mehr schätzt Järvi nicht nur den immer noch hörbaren Ertrag der Arbeit unter Zinman, sondern auch die grundsätzliche Verankerung der Zürcher in einer massgeblich durch die deutsch-österreichische Sinfonik geprägten Musizierweise. «Das war für mich entscheidend, denn diese Musik bildet auch das Herz meines Repertoires. Ich liebe beispielsweise das herrliche Legatospiel der Streicher, das sich völlig organisch in den kraftvollen, gerundeten Klang des Ensembles fügt. Das ist in dieser Ursprünglichkeit mittlerweile eine Rarität», schwärmt er. «Die grossen Orchester der Welt können heutzutage fast alles irgendwie spielen; aber hier in Zürich gibt es etwas Besonderes, ganz tief eingeschrieben in die Musikerseelen, das etwa bei Brahms oder Bruckner prächtig zum Tragen kommt.»
Paavo Järvi im Oktober 2018 beim ersten Konzert mit dem Tonhalle-Orchester Zürich nach seiner Nominierung. (Bild: Priska Ketterer / Tonhalle-Orchester Zürich)
Die Verbindung von gelebter Tradition mit neueren Ansätzen der historischen Aufführungspraxis erscheint ihm als eine ideale Kombination, die sich auch in der Mischung von historischen und neuen Instrumenten niederschlagen kann wie bei seinen Beethoven-Dirigaten. Gleichwohl weiss Järvi, dass sich Orchester im 21. Jahrhundert kaum mehr nur auf ein spezifisches Kernrepertoire kaprizieren können. «Deshalb spielen wir auf unserer ersten gemeinsamen CD Orchesterwerke von Olivier Messiaen», sagt er und muss selbst schmunzeln über diese doch ein wenig exotisch anmutende Wahl.
Moralische Unterstützung
Aber auch das Überraschungsmoment hat Methode bei Järvi: «Programme müssen eine innere Verbindung haben, die Werke sollen sich gegenseitig erhellen, und oft liegt in zunächst überraschenden Gegenüberstellungen ein besonderer Erkenntnisgewinn für die Hörer.» Ein solcher dürfte sich ebenfalls in Järvis erster Tonhalle-Saison einstellen, die der gebürtige Este bewusst der Musik aus dem nordischen Raum gewidmet hat. Er verbindet mit den Klängen aus Skandinavien und dem Baltikum nicht bloss Heimatgefühle; die hierzulande noch immer unterschätzten Sinfonien von Jean Sibelius und Carl Nielsen, aber auch Stücke von zeitgenössischen estnischen Komponisten wie Arvo Pärt und Erkki-Sven Tüür in südlicheren Gefilden zu etablieren, betrachtet er als seine persönliche Mission.
Dass der inzwischen 84 Jahre alte Pärt bei der Uraufführung der eigens für Zürich erarbeiteten Neufassung seines Stücks «Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte . . .» anwesend sein wird, freut ihn deshalb besonders. Und für die hiesige Erstaufführung von Sibelius’ wilder, früher Chorsinfonie «Kullervo» nach Texten aus dem finnischen Nationalepos «Kalevala» hat sich Järvi vorsichtshalber noch weitere moralische Unterstützung mitgebracht: seinen Vater Neeme, den Patriarchen der international tätigen Musikersippe der Järvis. «Ihm verdanke ich unendlich viel, auch als Dirigent», sagt er, und ausnahmsweise blitzt die Sphinx dabei ganz milde aus seinen Augen.
https://www.nzz.ch/feuilleton/einstand-paavo-jaervi-beim-tonhalle-orchester-zuerich-da-lacht-die-sphinx-ld.1512356
Christian Wildhagen
2.10.2019
Nach dem Honeymoon geht’s jetzt richtig los: Der neue Chefdirigent will gezielt und dennoch überraschend an die grosse Tradition des Tonhalle-Orchesters anknüpfen.
Angekommen: Paavo Järvi, der neue Musikdirektor und Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich, in der Tonhalle Maag. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)
Es war Ilona Schmiels unbestrittenes Meisterstück und ein Paukenschlag. Im Mai 2017 präsentierte die Intendantin der Zürcher Tonhalle-Gesellschaft der staunenden Musikwelt den neuen Chefdirigenten ihres Orchesters. Dank exzellenten Kontakten in die internationale Musikbranche war es Schmiel gelungen, einen der profiliertesten, aber eben auch gefragtesten Dirigenten unserer Zeit für Zürich zu gewinnen. Damit glückte ihr ohne Frage eine spektakuläre und obendrein entscheidende Weichenstellung in einem überaus heiklen Augenblick.
Denn zur selben Zeit befand sich das Tonhalle-Orchester in der schwersten künstlerischen Krise seiner jüngeren Geschichte. In den Schlamassel, der sogar noch das 150-Jahr-Jubiläum des Orchesters 2018 überschatten sollte, war die Tonhalle während der drei Jahre vor Schmiels Befreiungsschlag geraten. Durch eigenes Verschulden, denn die gut gemeinte Idee, auf die rund zwei Jahrzehnte währende Ära von David Zinman, dem das Tonhalle-Orchester wesentlich sein überregionales Renommee verdankt, partout einen scharf kontrastierenden Neuanfang mit dem sehr jungen Franzosen Lionel Bringuier folgen zu lassen, erwies sich schon bald nach dessen Antritt als zu wenig tragfähig.
Wie schnell das Niveau des Orchesterspiels unter der Situation zu leiden begann, war eine irritierende Erfahrung. Umso mehr, als das Tonhalle-Orchester punktuell durchaus noch immer an alte Glanzzeiten anzuknüpfen wusste – wenn es denn wollte. Es wollte, vor allem bei Gastspielen von Zinman und in geradezu singulärer Weise dann bei den ersten Dirigaten des «Zukünftigen». Diese Vorab-Konzerte ab Oktober 2018 glichen vorzeitigen Flitterwochen, in denen man sich mit Nachdruck der gegenseitigen Wertschätzung versicherte und auf Anhieb so befreit, so engagiert und energiegeladen miteinander musizierte, als gelte es, die unbefriedigenden letzten Jahre umgehend vergessen zu machen. Nun aber ist auch diese Honeymoon-Phase vorbei, jetzt wird es ernst, denn von heute an gibt der «Neue», gibt Paavo Järvi als Chefdirigent und Musikdirektor seine offiziellen Antrittskonzerte in der Zürcher Tonhalle Maag.
Orchestererzieher
Järvi lacht sein charakteristisches Sphinx-Lachen, als wir zwischen zwei Proben Gelegenheit haben, über seine Wahrnehmung der verfahrenen Situation zu sprechen. Er sieht sich ausdrücklich nicht als «Retter in der Not» und möchte, ganz Profi, den Blick ohnehin lieber nach vorne richten. Aber er habe die besondere Energie, den Enthusiasmus und die Offenheit der Musiker bemerkt, die schon die ersten gemeinsamen Proben und Konzerte beflügelt hätten. «Da war eine Bereitschaft und Flexibilität zu spüren, wie ich sie vor allem von kleineren Ensembles wie der Deutschen Kammerphilharmonie kannte, weniger von einem grossen und so traditionsreichen Klangkörper wie dem Tonhalle-Orchester.» Dies habe ihm die Augen geöffnet: In dem Moment stand für ihn endgültig fest, dass die Basis für eine Zusammenarbeit gegeben war.
Die Zuversicht im Hinblick auf die künftige Zusammenarbeit mit dem Tonhalle-Orchester ist kein Zweckoptimismus. Denn auch Järvi selbst dürfte bekannt sein, was man sich in Musikerkreisen gern erzählt und gegenseitig bestätigt: dass bisher noch jedes Ensemble, bei dem er längere Zeit als Chefdirigent gewirkt hat, am Ende besser, präziser und vor allem inspirierter klang. Das galt für das Orchestre de Paris, das er von 2010 bis 2016 leitete; und es galt geradezu exemplarisch für das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks, das er zwischen 2006 und 2013 buchstäblich aus routiniertem Mittelmass in eine höhere Umlaufbahn katapultierte. Die Frankfurter Musiker dankten ihm dies – wie zuvor das ähnlich wachgeküsste Cincinnati Symphony Orchestra – mit dem Titel eines Ehrendirigenten.
Wie nachhaltig Järvi als Orchestererzieher zu wirken vermag, demonstriert nicht zuletzt die erwähnte Kammerphilharmonie mit Sitz in Bremen, deren künstlerischer Leiter er nun schon seit fünfzehn Jahren ist – eine Tätigkeit, die Järvi parallel zu den Chefposten in Zürich sowie beim NHK Symphony Orchestra in Tokio (seit 2015) beibehalten will. Die Kammerphilharmonie, 1980 als ursprünglich rein privatwirtschaftlich getragener Zusammenschluss von Musikstudenten ins Leben gerufen, zählt nach schwierigen Anfängen heute nicht nur zu den erfolgreichsten Orchesterneugründungen in Deutschland, sondern auch zu den Klangkörpern mit dem klarsten stilistischen Profil.
Als wegweisend gilt der dort mit Järvi erarbeitete Beethoven-Zyklus – eine Interpretation aus dem Geist und auf dem neuesten Stand der historischen Aufführungspraxis, aber auf überwiegend modernem Instrumentarium. Damit ist der Bremer Sinfonienzyklus zugleich eine Fortschreibung der preisgekrönten Beethoven-Einspielungen David Zinmans mit dem Tonhalle-Orchester, die bereits etliche Jahre früher einen ähnlichen Ansatz verfolgten. Järvi selbst sieht diese Kontinuität und schätzt Zinmans Beethoven als eine nach wie vor bahnbrechende Interpretation, die obendrein tief in die kollektive DNA des Orchesters eingedrungen sei. «Man hört sofort, dass hier über längere Zeit etwas Bleibendes und Eigenes erarbeitet wurde. So etwas erreicht man nicht in bloss zwei Proben und einer Aufführung. Heute gibt es leider selbst bei den besten Orchestern nur noch selten die Gelegenheit, etwas so kontinuierlich und zielgerichtet aufzubauen. Zinman und dem Tonhalle-Orchester ist da wirklich ein Meilenstein gelungen.»
Tief eingeschrieben
Wie aber will er künftig bei der Arbeit zwischen seinen Orchestern differenzieren? Wohl gerade weil die Parallelen zwischen der Arbeit in Bremen und Zürich im Ansatz, im stilistischen Empfinden und im informierten Umgang mit dem Notentext auf der Hand liegen, sieht Järvi Unterscheidbarkeit nicht als vorrangiges Kriterium an. Unterschiede seien allein schon durch die Kammerorchester-Besetzung in Bremen, aber auch durch die Persönlichkeiten der Musikerinnen und Musiker gegeben. All das manifestiere sich für ihn im Klang: «In Zürich höre ich, einmal losgelöst von Stilfragen, den grossen, satten Klang eines Sinfonieorchesters mit einer tiefen Verwurzelung in der Tradition. Das ist für mich das Eigene, mit dem ich arbeiten will. Vergleiche mit meinen anderen Ensembles bringen uns da nicht wesentlich weiter.»
Umso mehr schätzt Järvi nicht nur den immer noch hörbaren Ertrag der Arbeit unter Zinman, sondern auch die grundsätzliche Verankerung der Zürcher in einer massgeblich durch die deutsch-österreichische Sinfonik geprägten Musizierweise. «Das war für mich entscheidend, denn diese Musik bildet auch das Herz meines Repertoires. Ich liebe beispielsweise das herrliche Legatospiel der Streicher, das sich völlig organisch in den kraftvollen, gerundeten Klang des Ensembles fügt. Das ist in dieser Ursprünglichkeit mittlerweile eine Rarität», schwärmt er. «Die grossen Orchester der Welt können heutzutage fast alles irgendwie spielen; aber hier in Zürich gibt es etwas Besonderes, ganz tief eingeschrieben in die Musikerseelen, das etwa bei Brahms oder Bruckner prächtig zum Tragen kommt.»
Paavo Järvi im Oktober 2018 beim ersten Konzert mit dem Tonhalle-Orchester Zürich nach seiner Nominierung. (Bild: Priska Ketterer / Tonhalle-Orchester Zürich)
Die Verbindung von gelebter Tradition mit neueren Ansätzen der historischen Aufführungspraxis erscheint ihm als eine ideale Kombination, die sich auch in der Mischung von historischen und neuen Instrumenten niederschlagen kann wie bei seinen Beethoven-Dirigaten. Gleichwohl weiss Järvi, dass sich Orchester im 21. Jahrhundert kaum mehr nur auf ein spezifisches Kernrepertoire kaprizieren können. «Deshalb spielen wir auf unserer ersten gemeinsamen CD Orchesterwerke von Olivier Messiaen», sagt er und muss selbst schmunzeln über diese doch ein wenig exotisch anmutende Wahl.
Moralische Unterstützung
Aber auch das Überraschungsmoment hat Methode bei Järvi: «Programme müssen eine innere Verbindung haben, die Werke sollen sich gegenseitig erhellen, und oft liegt in zunächst überraschenden Gegenüberstellungen ein besonderer Erkenntnisgewinn für die Hörer.» Ein solcher dürfte sich ebenfalls in Järvis erster Tonhalle-Saison einstellen, die der gebürtige Este bewusst der Musik aus dem nordischen Raum gewidmet hat. Er verbindet mit den Klängen aus Skandinavien und dem Baltikum nicht bloss Heimatgefühle; die hierzulande noch immer unterschätzten Sinfonien von Jean Sibelius und Carl Nielsen, aber auch Stücke von zeitgenössischen estnischen Komponisten wie Arvo Pärt und Erkki-Sven Tüür in südlicheren Gefilden zu etablieren, betrachtet er als seine persönliche Mission.
Dass der inzwischen 84 Jahre alte Pärt bei der Uraufführung der eigens für Zürich erarbeiteten Neufassung seines Stücks «Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte . . .» anwesend sein wird, freut ihn deshalb besonders. Und für die hiesige Erstaufführung von Sibelius’ wilder, früher Chorsinfonie «Kullervo» nach Texten aus dem finnischen Nationalepos «Kalevala» hat sich Järvi vorsichtshalber noch weitere moralische Unterstützung mitgebracht: seinen Vater Neeme, den Patriarchen der international tätigen Musikersippe der Järvis. «Ihm verdanke ich unendlich viel, auch als Dirigent», sagt er, und ausnahmsweise blitzt die Sphinx dabei ganz milde aus seinen Augen.
https://www.nzz.ch/feuilleton/einstand-paavo-jaervi-beim-tonhalle-orchester-zuerich-da-lacht-die-sphinx-ld.1512356
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