Wenn der Bruder mit der Schwester

tagesanzeiger.ch
Susanne Kübler
3.10.2019

Paavo Järvi ist als Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters gestartet. Fulminant. Und höchst eigenwillig.



Paavo Järvi und das Orchester konnten in der Tonhalle Maag minutenlangen Applaus entgegennehmen. Foto: Gaëtan Bally

Wie Schwerthiebe zerteilen die Akkorde den Raum, zack, zack, ausweichen zwecklos. Etwas Schlimmes ist passiert in Jean Sibelius’ «Kullervo», etwas, das sich nicht mehr gutmachen lässt. Das Mädchen, das Kullervos Gold nicht widerstehen konnte, hat sich als seine verschollene Schwester herausgestellt. Und bevor er sich selbst richten kann für diese Blutschande, tut das schon die Musik.


Ein düsteres Stück? Oh ja. Und zweifellos ein überraschendes für ein Konzert, mit dem ein neuer Chefdirigent sein Amt antritt. Aber wenn dieser Chefdirigent Paavo Järvi heisst: Dann passt das bestens.

Er hätte es sich ja leichter machen können. Einen Schlager programmieren, einen Starsolisten einfliegen lassen, die Standing Ovation abholen. Aber Järvi wollte mehr, nämlich zeigen, worum es ihm geht hier in Zürich, und warum er neben dem Titel eines Chefdirigenten auch jenen eines Music Directors trägt: Er will nicht nur dirigieren, sondern die künstlerische Ausrichtung des Orchesters prägen.



Mehr als für Glamour interessiert sich Järvi für die Arbeit mit dem Orchester.



Also importierte er statt eines Starsolisten den Estnischen Nationalen Männerchor RAM, der zusammen mit den Männern der Zürcher Singakademie die Erzählerfunktion in «Kullervo» übernahm: so klangstark und unerbittlich, dass es einen schauderte. Die Solopartien sangen Johanna und Ville Rusanen, die neben den Tönen auch den altfinnischen Text lebendig werden liessen (und tatsächlich Geschwister sind).

Und noch ein weiterer Gast war da: der estnische Komponist Arvo Pärt, der für diese Eröffnung sein 1976 komponiertes Werk «Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte…» überarbeitet hat. Dieses Sechsminutenstück wurde zum Auftakt des Abends gespielt, als witzig-skurriler Kontrapunkt zum dramatisch-archaischen «Kullervo».

Der Este Järvi brachte damit seine eigene Welt nach Zürich – und betonte gleichzeitig, dass ihn nichts mehr interessiert als die Arbeit mit dem Orchester. Denn die Tonhalle-Musikerinnen und -Musiker konnten in diesem Programm zeigen, was sie können; und auch, mit wie viel Energie und Ambitionen sie in die Zusammenarbeit mit Järvi steigen.

Bedrohliche Liebesszene

Mit Verve gestalteten sie Pärts Pointen, das Summen der Geigen, das B-A-C-H des Horns, den pseudobarocken Satz, in den das Ganze ausläuft. Bei «Kullervo» dann hätte man das Klangbild malen können, moosgrün und schweflig gelb, mit einem Stich ins Düstere schon da, wo die Welt noch in Ordnung scheint.

Eine volle halbe Stunde dauert es, bis Chor und Sänger in diesem 70-Minuten-Stück einsetzen, auch danach tritt das Orchester immer wieder in den Vordergrund: mit Naturschilderungen, mit der wohl bedrohlichsten Liebesszene der Musikliteratur, mit der klanglichen Übersetzung von inneren wie äusseren Kämpfen.

Järvi spitzte zu, justierte die Balance, lockte Orchestersolisten aus der Reserve, rundete den Gesamtklang, kurz: Er sorgte dafür, dass diese Tonhalle-Erstaufführung minutenlangen Applaus verdiente. Und kündigte damit auch schon an, was drinliegt beim nächsten Projekt, bei der Gesamtaufführung und -aufnahme der Tschaikowsky-Sinfonien. Dass er auch diese Hits nicht einfach als Hits abfeiern wird – darauf kann man sich nach diesem Auftakt verlassen.

Wiederholung des Programms heute Donnerstag und morgen Freitag, 19.30 Uhr, Tonhalle Maag.

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