Alles kann immer mehr sein
VAN Magazine
Hannah Schmidt
06.11.2019
Zürichs neuer Chefdirigent Paavo Järvi im Interview.
Etwas mehr als einen Monat ist Paavo Järvis Antrittskonzert als Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich nun her – seitdem ist er dort nun nicht mehr nur Gast, wenn er dirigiert, sondern fester Teil des Klangkörpers. Auf seinen direkten Vorgänger Lionel Bringuier hatte die Schweizer Presse zuvor wenig begeistert reagiert. Järvi feiert sie nun als eine Art Retter, der dem Orchester zum alten Glanz zurück verhelfen könne. »Ist das überhaupt noch dasselbe Orchester?«, fragte beispielsweise die Neue Zürcher Zeitung. Wie wahr oder verzerrt das alles vielleicht auch sein mag, sogar im Vergleich zum Klang und Repertoire unter dem 19 Jahre lang wirkenden Chefdirigenten David Zinman ist hier seit Järvis Antritt einiges im Aufbruch. An einem Tag Ende Oktober, gegen 13.30 Uhr, ist gerade wieder ein recht tosender Applaus im Saal zu Ende gegangen, und Paavo Järvi macht sich hinten im Dirigentenzimmer einen Espresso. Er bietet alles an, was dort so herumsteht – Weintrauben, Orangenschokolade – und setzt sich weit zurück gelehnt auf die Couch.
VAN: IST TSCHAIKOWSKYS SECHSTE WIRKLICH ETWAS FÜR EIN ›LUNCHCONCERT‹?
Paavo Järvi: Ich weiß, eigentlich kann man diese Musik nicht im Lunchkonzert bringen, eigentlich ist es total verrückt: Aufwachen, Guten Morgen – Pathétique! Ich versuche dennoch alles zu geben und das Orchester auch, immerhin nehmen wir auf.
BIST DU DENN ZUFRIEDEN MIT DEN BISHERIGEN KONZERTEN?
Naja, zufrieden ist eine Sache, befriedigt eine andere. Bisher bin ich nur ganz selten mal mit Konzerten glücklich gewesen, bisher nur mit der Kammerphilharmonie Bremen. Dort haben wir im wahrsten Wortsinn jahrelang am gleichen Repertoire gearbeitet, das ist Feintuning auf einem ganz anderen Level …
UND MIT DER PATHÉTIQUE HIER IN ZÜRICH?
Bei Tschaikowskys Sechster war ich bisher nie wirklich glücklich mit einer Aufführung. Dort gibt es einfach so Vieles, das richtig sein, funktionieren, passieren muss, und das hat nichts mit Perfektion oder Zusammenspiel zu tun. Das Schwierigste ist der letzte Satz, wenn man diese unglaubliche Verlassenheit und den Schmerz, die Resignation und Wut spürt, und gleichzeitig muss es aber auch musikalisch Sinn ergeben, was du tust. Es ist schwer, einen Modus zu finden, der all diese Kriterien erfüllt, so dass du als Zuhörer wirklich glaubst, dass da gerade etwas Tragisches passiert.
SONST IST ES EINFACH ›SCHÖN‹?
Ja. Wenn die Leute sagen ›Oh, das war schön‹, dann weiß ich genau, dass es nicht gut war. Da wäre es mir sogar lieber, wenn sie es wirklich hassen. Zum Beispiel dieser Marsch im dritten Satz – das muss sich anfühlen wie vor eine Wand geschleudert zu werden. Das ist ein Marsch in die Hölle, one way. Nicht so [singt] – da bleibt nichts übrig. An diesem Marsch ist nichts Fröhliches.
ABER PASSIERT ES NICHT GERADE BEI TSCHAIKOWSKY SCHNELL, DASS MAN ZU VIEL WILL UND ES DANN KITSCHIG WIRD?
Dieses ganze Kitsch-Ding ist eigentlich sehr interessant. Jahrhundertelang gab es einen gewissen Standard was die Interpretation dieser Musik angeht, es gab allgemein als richtig akzeptierte Werte. Da galt schnell etwas als zu emotional, zu kitschig. Aber wir leben in einer Zeit, in der sich die Werte ändern. Tschaikowskys Musik ist so sehr verbunden mit ihm und seiner inneren Welt – er war homosexuell, das wusste damals jeder, aber in keinem Buch tauchte es jemals auf, er sprach Französisch zu Hause, liebte das Ballett. Das ist alles in seiner Musik enthalten, aber es wurde immer auf gewisse Weise heruntergespielt. Weil: zu kitschig, zu dies, zu das. Nein, es ist exakt, was in seiner Musik steckt.
ALSO IST KITSCH GESCHMACKSSACHE?
Zum großen Teil, ja. Ich will zwar keinen Kitsch machen, aber ich will auch keine wahrhaftigen Momente herunterspielen, nur weil man es traditionellerweise nicht wagte, die Emotionen auszudrücken, die der Komponist beim Schreiben dieser Musik hatte. Wir können das jetzt tun. Die Zeiten haben sich geändert. Der Streicherklang dieses Orchesters ist wirklich fantastisch, den braucht man für Tschaikowsky.
WAS IST DENN EIN GUTER KLANG?
Klang ist kein Selbstzweck, Klang bezieht sich immer auf etwas. Er muss im Kontext gesehen werden zur Logik und der Aussage eines Werks. Wenn wir über Klang sprechen, haben wir meist das Ideal eines deutschen Orchesters im Kopf, das deutsche Musik spielt, und wir sprechen über den tollen Klang der Berliner oder Wiener Philharmoniker – aber dieser Klang ist das Resultat des Spielens großen deutschen Repertoires, bei dem man genau weiß, wie Bruckner und Brahms klingen müssen. Dvořák ist nicht der gleiche Sound. Dvořák ist anders, zwar romantisch, aber böhmisch, nicht russisch wie Tschaikowsky. Russische Orchester spielen Dvořák immer wie Tschaikowsky, bei deutschen Orchestern klingt Dvořák immer wie Brahms. Aber er hat auf gewisse Weise eine andere Herkunft. Und diese Herkunft hört man beim Czech Philharmonic und nirgendwo sonst. Der Rest ist alles guter Klang, tolles Orchesterspiel – aber am Ende immer das Gleiche. Ein Orchester hat seine eigene Klangkultur, an die man sich anpassen kann, aber auch seine eigene Geschwindigkeit, sein eigenes Reaktionstempo, und das ist bei jedem Ensemble einzigartig.
DAS BRINGT ABER AUCH SCHLECHTE GEWOHNHEITEN MIT SICH, KÖNNTE ICH MIR VORSTELLEN?
Ja, auch. Bei deutschen Orchestern passiert es zum Beispiel schnell, dass sie, wenn sie besonders schönen Klang produzieren wollen, langsamer werden. Sie wollen Tiefe und Farbe schaffen, und das braucht Zeit. Das Resultat klingt dann sehr schön, aber die Musik steckt ein bisschen fest. Als ich mit den Berliner Philharmonikern Schumanns Dritte gemacht habe, wollte ich es etwas leichter und schneller [singt], und sie spielten: [singt die gleiche Phrase langsamer und breiter]. Das war, was sie gewohnt waren und es ist auch total okay – aber ich war schon im dritten Takt, als sie noch im zweiten waren.
IST ES NICHT AUCH VON VORTEIL, WENN EIN ORCHESTER EIN STÜCK SCHON KENNT?
Der Satz ›Das Stück kennen wir‹ macht mich immer nervös. Das bedeutet, dass mir eine harte Woche bevorsteht. Dann bin ich die meiste Zeit damit beschäftigt, Dinge rückgängig zu machen, die die Musiker schon wissen. Das Meiste, was sie tun, tun sie nämlich einfach aus schlechter Gewohnheit, aus Routine. Es ist zwar gute Routine, die funktioniert, und die die Dinge zusammenhält, aber es klingt etwas, naja, erwartbar.
UND FÜR JUNGE DIRIGENT*INNEN? DA MACHT ES DOCH IM GEGENTEIL VIELES LEICHTER.
Das Problem der Jungen ist – und es war auch mein Problem, als ich 30 Jahre alt war: Du weißt nichts und du hast kein Repertoire. Hast vielleicht drei oder zehn Stücke im Konzert dirigiert, mit einem mittelguten Orchester, und alle nur ein einziges Mal. Am Ende der ersten Saison hast du dann alle Stücke in deinem Repertoire gemacht und in der Folge machst du alles zum ersten Mal. Das ist ein Albtraum. Das Orchester wird zum Versuchskaninchen für dich, der du die Stücke lernst, die das Ensemble schon 50 Mal im Leben gespielt hat. Ich war in dieser Situation und bin froh, sie überstanden zu haben.
DAVID ZINMAN HAT DIESEN SEHR BERÜHMT GEWORDENEN BEETHOVEN-ZYKLUS MIT DEM TOZ AUFGENOMMEN. SPÜRST DU SEINEN GEIST NOCH IMMER?
Auf jeden Fall. Die meisten Orchester spielen Beethoven auf ziemlich übliche Weise, aber dieses Orchester kann Beethoven sehr spezifisch spielen … Man spürt, dass das Orchester lange Zeit auf sehr hohem Niveau gehalten und geleitet wurde, das ist einfach Arbeit, die Zinman wirklich gut gemacht hat. Dieses Orchester hat eine innere Kultur entwickelt, die bleibt, und die so schnell nicht wieder nachlassen wird – dafür bräuchte es wirklich Jahrzehnte schlechten Dirigats. Die Musiker*innen sind zu stolz, alle Musiker*innen wollen schließlich in einem guten Orchester spielen. Ein so gutes Niveau hält sich wirklich lange Zeit.
IN DER PATHÉTIQUE HAST DU DAS ORCHESTER HEUTE MITTAG SEHR GEFORDERT, DAS GING IM TEMPO ZWISCHENDURCH BIS AN DIE GRENZE DES SPIELBAREN … WILLST DU SIE IRGENDWIE TESTEN?
Ich will das Orchester weiterentwickeln und sichergehen, dass die Musiker*innen flexibel dabei sind und die ganze Zeit miteinander in Kontakt bleiben. Ich habe hier gerade erst ein paar Projekte gemacht und ich arbeite noch daran, dass wir einen gemeinsamen Reaktionsmoment finden. Da sind dann bewusst ein paar Sachen übertrieben, damit ich sagen kann: ›Achtung, es könnte so sein. Und erwartet nicht, dass es immer so sein wird.‹
FÄLLT ES DIR MANCHMAL SCHWER DIE RICHTIGE KLANGLICHE RICHTUNG FÜR EIN WERK ZU FINDEN?
[Pause] Es ist immer schwer eine Richtung zu finden, denn die Richtung ändert sich. Ein Stück wie Tschaikowskys Sechste – damit bin ich aufgewachsen. Ich kannte die Sinfonie schon mit vier, fünf, sechs Jahren auswendig, erinnere mich an Mravinskys Aufnahmen und an meinen Vater, wie er sie dirigiert. Auf gewisse Weise ist sie also ein Teil von mir, aber nach 20 Jahren des Dirigierens hat sie sich verändert, denn ich habe mich verändert. Ich wusste nichts über Tschaikowskys Leben als ich zehn Jahre alt war, jetzt ist es eine ganz andere Geschichte. Und gleichzeitig weißt du, dass da die Möglichkeit ist, mehr zu geben und mehr zu machen, mehr Dynamik, mehr Sforzato, der Biss der Klänge sollte schmerzhafter sein, wie der Biss eines Hundes oder eines Wolfs. Ich habe selten das Gefühl, es ist zu viel, eher: Es ist zu wenig. Alles kann immer mehr sein.
UND DIE AUFNAHMEN SOLLEN NUN AUCH BEWUSST ANDERS KLINGEN? ODER WARUM SPIELT IHR DIE GEFÜHLT 100.000STE PATHÉTIQUE EIN?
Eigentlich bedeutet das Aufnehmen tatsächlich gewaltigen Stress. Ein Stück aufzunehmen, das die Leute nicht kennen, ist eine Sache. Die Pathétiqueaufzunehmen ist die Hölle. Es gibt gefühlt eine Million Aufnahmen davon – und ich kenne sie, denn ich sammle Aufnahmen. Wenn es eine Sache gibt, die die Welt nicht braucht, dann ist es eine weitere korrekte Einspielung dieses Werks. Was wir brauchen ist etwas, das dich aufhorchen lässt: Was passiert denn da? Ich glaube, dass ich etwas über diese Musik zu sagen habe, was wir noch nicht schon wussten, und ich habe den richtigen Partner gefunden, um das zu tun. Und ich finde, sollte die Welt das Ergebnis hören. Es ist natürlich ein gewisser Druck dabei. Aber das hält uns wach und macht das Leben spannend.
Hannah Schmidt
06.11.2019
Zürichs neuer Chefdirigent Paavo Järvi im Interview.
Etwas mehr als einen Monat ist Paavo Järvis Antrittskonzert als Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich nun her – seitdem ist er dort nun nicht mehr nur Gast, wenn er dirigiert, sondern fester Teil des Klangkörpers. Auf seinen direkten Vorgänger Lionel Bringuier hatte die Schweizer Presse zuvor wenig begeistert reagiert. Järvi feiert sie nun als eine Art Retter, der dem Orchester zum alten Glanz zurück verhelfen könne. »Ist das überhaupt noch dasselbe Orchester?«, fragte beispielsweise die Neue Zürcher Zeitung. Wie wahr oder verzerrt das alles vielleicht auch sein mag, sogar im Vergleich zum Klang und Repertoire unter dem 19 Jahre lang wirkenden Chefdirigenten David Zinman ist hier seit Järvis Antritt einiges im Aufbruch. An einem Tag Ende Oktober, gegen 13.30 Uhr, ist gerade wieder ein recht tosender Applaus im Saal zu Ende gegangen, und Paavo Järvi macht sich hinten im Dirigentenzimmer einen Espresso. Er bietet alles an, was dort so herumsteht – Weintrauben, Orangenschokolade – und setzt sich weit zurück gelehnt auf die Couch.
VAN: IST TSCHAIKOWSKYS SECHSTE WIRKLICH ETWAS FÜR EIN ›LUNCHCONCERT‹?
Paavo Järvi: Ich weiß, eigentlich kann man diese Musik nicht im Lunchkonzert bringen, eigentlich ist es total verrückt: Aufwachen, Guten Morgen – Pathétique! Ich versuche dennoch alles zu geben und das Orchester auch, immerhin nehmen wir auf.
BIST DU DENN ZUFRIEDEN MIT DEN BISHERIGEN KONZERTEN?
Naja, zufrieden ist eine Sache, befriedigt eine andere. Bisher bin ich nur ganz selten mal mit Konzerten glücklich gewesen, bisher nur mit der Kammerphilharmonie Bremen. Dort haben wir im wahrsten Wortsinn jahrelang am gleichen Repertoire gearbeitet, das ist Feintuning auf einem ganz anderen Level …
UND MIT DER PATHÉTIQUE HIER IN ZÜRICH?
Bei Tschaikowskys Sechster war ich bisher nie wirklich glücklich mit einer Aufführung. Dort gibt es einfach so Vieles, das richtig sein, funktionieren, passieren muss, und das hat nichts mit Perfektion oder Zusammenspiel zu tun. Das Schwierigste ist der letzte Satz, wenn man diese unglaubliche Verlassenheit und den Schmerz, die Resignation und Wut spürt, und gleichzeitig muss es aber auch musikalisch Sinn ergeben, was du tust. Es ist schwer, einen Modus zu finden, der all diese Kriterien erfüllt, so dass du als Zuhörer wirklich glaubst, dass da gerade etwas Tragisches passiert.
SONST IST ES EINFACH ›SCHÖN‹?
Ja. Wenn die Leute sagen ›Oh, das war schön‹, dann weiß ich genau, dass es nicht gut war. Da wäre es mir sogar lieber, wenn sie es wirklich hassen. Zum Beispiel dieser Marsch im dritten Satz – das muss sich anfühlen wie vor eine Wand geschleudert zu werden. Das ist ein Marsch in die Hölle, one way. Nicht so [singt] – da bleibt nichts übrig. An diesem Marsch ist nichts Fröhliches.
ABER PASSIERT ES NICHT GERADE BEI TSCHAIKOWSKY SCHNELL, DASS MAN ZU VIEL WILL UND ES DANN KITSCHIG WIRD?
Dieses ganze Kitsch-Ding ist eigentlich sehr interessant. Jahrhundertelang gab es einen gewissen Standard was die Interpretation dieser Musik angeht, es gab allgemein als richtig akzeptierte Werte. Da galt schnell etwas als zu emotional, zu kitschig. Aber wir leben in einer Zeit, in der sich die Werte ändern. Tschaikowskys Musik ist so sehr verbunden mit ihm und seiner inneren Welt – er war homosexuell, das wusste damals jeder, aber in keinem Buch tauchte es jemals auf, er sprach Französisch zu Hause, liebte das Ballett. Das ist alles in seiner Musik enthalten, aber es wurde immer auf gewisse Weise heruntergespielt. Weil: zu kitschig, zu dies, zu das. Nein, es ist exakt, was in seiner Musik steckt.
ALSO IST KITSCH GESCHMACKSSACHE?
Zum großen Teil, ja. Ich will zwar keinen Kitsch machen, aber ich will auch keine wahrhaftigen Momente herunterspielen, nur weil man es traditionellerweise nicht wagte, die Emotionen auszudrücken, die der Komponist beim Schreiben dieser Musik hatte. Wir können das jetzt tun. Die Zeiten haben sich geändert. Der Streicherklang dieses Orchesters ist wirklich fantastisch, den braucht man für Tschaikowsky.
WAS IST DENN EIN GUTER KLANG?
Klang ist kein Selbstzweck, Klang bezieht sich immer auf etwas. Er muss im Kontext gesehen werden zur Logik und der Aussage eines Werks. Wenn wir über Klang sprechen, haben wir meist das Ideal eines deutschen Orchesters im Kopf, das deutsche Musik spielt, und wir sprechen über den tollen Klang der Berliner oder Wiener Philharmoniker – aber dieser Klang ist das Resultat des Spielens großen deutschen Repertoires, bei dem man genau weiß, wie Bruckner und Brahms klingen müssen. Dvořák ist nicht der gleiche Sound. Dvořák ist anders, zwar romantisch, aber böhmisch, nicht russisch wie Tschaikowsky. Russische Orchester spielen Dvořák immer wie Tschaikowsky, bei deutschen Orchestern klingt Dvořák immer wie Brahms. Aber er hat auf gewisse Weise eine andere Herkunft. Und diese Herkunft hört man beim Czech Philharmonic und nirgendwo sonst. Der Rest ist alles guter Klang, tolles Orchesterspiel – aber am Ende immer das Gleiche. Ein Orchester hat seine eigene Klangkultur, an die man sich anpassen kann, aber auch seine eigene Geschwindigkeit, sein eigenes Reaktionstempo, und das ist bei jedem Ensemble einzigartig.
DAS BRINGT ABER AUCH SCHLECHTE GEWOHNHEITEN MIT SICH, KÖNNTE ICH MIR VORSTELLEN?
Ja, auch. Bei deutschen Orchestern passiert es zum Beispiel schnell, dass sie, wenn sie besonders schönen Klang produzieren wollen, langsamer werden. Sie wollen Tiefe und Farbe schaffen, und das braucht Zeit. Das Resultat klingt dann sehr schön, aber die Musik steckt ein bisschen fest. Als ich mit den Berliner Philharmonikern Schumanns Dritte gemacht habe, wollte ich es etwas leichter und schneller [singt], und sie spielten: [singt die gleiche Phrase langsamer und breiter]. Das war, was sie gewohnt waren und es ist auch total okay – aber ich war schon im dritten Takt, als sie noch im zweiten waren.
IST ES NICHT AUCH VON VORTEIL, WENN EIN ORCHESTER EIN STÜCK SCHON KENNT?
Der Satz ›Das Stück kennen wir‹ macht mich immer nervös. Das bedeutet, dass mir eine harte Woche bevorsteht. Dann bin ich die meiste Zeit damit beschäftigt, Dinge rückgängig zu machen, die die Musiker schon wissen. Das Meiste, was sie tun, tun sie nämlich einfach aus schlechter Gewohnheit, aus Routine. Es ist zwar gute Routine, die funktioniert, und die die Dinge zusammenhält, aber es klingt etwas, naja, erwartbar.
UND FÜR JUNGE DIRIGENT*INNEN? DA MACHT ES DOCH IM GEGENTEIL VIELES LEICHTER.
Das Problem der Jungen ist – und es war auch mein Problem, als ich 30 Jahre alt war: Du weißt nichts und du hast kein Repertoire. Hast vielleicht drei oder zehn Stücke im Konzert dirigiert, mit einem mittelguten Orchester, und alle nur ein einziges Mal. Am Ende der ersten Saison hast du dann alle Stücke in deinem Repertoire gemacht und in der Folge machst du alles zum ersten Mal. Das ist ein Albtraum. Das Orchester wird zum Versuchskaninchen für dich, der du die Stücke lernst, die das Ensemble schon 50 Mal im Leben gespielt hat. Ich war in dieser Situation und bin froh, sie überstanden zu haben.
DAVID ZINMAN HAT DIESEN SEHR BERÜHMT GEWORDENEN BEETHOVEN-ZYKLUS MIT DEM TOZ AUFGENOMMEN. SPÜRST DU SEINEN GEIST NOCH IMMER?
Auf jeden Fall. Die meisten Orchester spielen Beethoven auf ziemlich übliche Weise, aber dieses Orchester kann Beethoven sehr spezifisch spielen … Man spürt, dass das Orchester lange Zeit auf sehr hohem Niveau gehalten und geleitet wurde, das ist einfach Arbeit, die Zinman wirklich gut gemacht hat. Dieses Orchester hat eine innere Kultur entwickelt, die bleibt, und die so schnell nicht wieder nachlassen wird – dafür bräuchte es wirklich Jahrzehnte schlechten Dirigats. Die Musiker*innen sind zu stolz, alle Musiker*innen wollen schließlich in einem guten Orchester spielen. Ein so gutes Niveau hält sich wirklich lange Zeit.
IN DER PATHÉTIQUE HAST DU DAS ORCHESTER HEUTE MITTAG SEHR GEFORDERT, DAS GING IM TEMPO ZWISCHENDURCH BIS AN DIE GRENZE DES SPIELBAREN … WILLST DU SIE IRGENDWIE TESTEN?
Ich will das Orchester weiterentwickeln und sichergehen, dass die Musiker*innen flexibel dabei sind und die ganze Zeit miteinander in Kontakt bleiben. Ich habe hier gerade erst ein paar Projekte gemacht und ich arbeite noch daran, dass wir einen gemeinsamen Reaktionsmoment finden. Da sind dann bewusst ein paar Sachen übertrieben, damit ich sagen kann: ›Achtung, es könnte so sein. Und erwartet nicht, dass es immer so sein wird.‹
FÄLLT ES DIR MANCHMAL SCHWER DIE RICHTIGE KLANGLICHE RICHTUNG FÜR EIN WERK ZU FINDEN?
[Pause] Es ist immer schwer eine Richtung zu finden, denn die Richtung ändert sich. Ein Stück wie Tschaikowskys Sechste – damit bin ich aufgewachsen. Ich kannte die Sinfonie schon mit vier, fünf, sechs Jahren auswendig, erinnere mich an Mravinskys Aufnahmen und an meinen Vater, wie er sie dirigiert. Auf gewisse Weise ist sie also ein Teil von mir, aber nach 20 Jahren des Dirigierens hat sie sich verändert, denn ich habe mich verändert. Ich wusste nichts über Tschaikowskys Leben als ich zehn Jahre alt war, jetzt ist es eine ganz andere Geschichte. Und gleichzeitig weißt du, dass da die Möglichkeit ist, mehr zu geben und mehr zu machen, mehr Dynamik, mehr Sforzato, der Biss der Klänge sollte schmerzhafter sein, wie der Biss eines Hundes oder eines Wolfs. Ich habe selten das Gefühl, es ist zu viel, eher: Es ist zu wenig. Alles kann immer mehr sein.
UND DIE AUFNAHMEN SOLLEN NUN AUCH BEWUSST ANDERS KLINGEN? ODER WARUM SPIELT IHR DIE GEFÜHLT 100.000STE PATHÉTIQUE EIN?
Eigentlich bedeutet das Aufnehmen tatsächlich gewaltigen Stress. Ein Stück aufzunehmen, das die Leute nicht kennen, ist eine Sache. Die Pathétiqueaufzunehmen ist die Hölle. Es gibt gefühlt eine Million Aufnahmen davon – und ich kenne sie, denn ich sammle Aufnahmen. Wenn es eine Sache gibt, die die Welt nicht braucht, dann ist es eine weitere korrekte Einspielung dieses Werks. Was wir brauchen ist etwas, das dich aufhorchen lässt: Was passiert denn da? Ich glaube, dass ich etwas über diese Musik zu sagen habe, was wir noch nicht schon wussten, und ich habe den richtigen Partner gefunden, um das zu tun. Und ich finde, sollte die Welt das Ergebnis hören. Es ist natürlich ein gewisser Druck dabei. Aber das hält uns wach und macht das Leben spannend.
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