„Nach der Ukraine wären wir die Nächsten“

franKfurter allgemeine Zeitung

21. Juli 2023

Paavo Järvi und das estonian festival Orchestra trotzen den Ängsten und Krisen der Zeit.

Von Clemens Haustein, Pärnu

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foto leon van der Velden

die möwen kreischen. Ob das nun idyl- lisch ist oder beunruhigend – man kann sich nicht sicher sein. durch den nacht- himmel fliegen sie, den hier in estland bei Konzertende immer noch die däm- merung erleuchtet. selbst um mitter- nacht herrscht noch keine dunkelheit, was dazu anregt, den tag zu feiern, so- lange es nur geht. und gefeiert wird in Pärnu, dem traditionellen Bade-Hot- spot der esten, zumal am Wochenende heftig und entschieden, gleichwohl kultiviert (junge, trinkwillige Partytou- risten verschlägt es hierhin eher nicht): in der stadt, am strand. menschen dre- hen sich auf den straßen im Paartanz, noch spätnachts schallt musik durch das rauschen der linden, Birken und Kiefern. der Klimawandel fällt hier im norden erträglich aus; sollte es einmal schwül sein, folgt schon bald der reini- gende regenguss. tags darauf herrscht frischer sonnenschein.

schon deshalb dürfte es Paavo Järvi, dem künstlerischen leiter des Pärnu music festivals, nicht allzu schwerfal- len, prominente Künstlerfreunde her- zulocken trotz überschaubarer Honora- re (der großteil des teams für die Organisation arbeitet hier unentgelt- lich). in diesem Jahr etwa kam der gei- ger und Bratscher Pinchas Zukerman, der dem Ort und seinem heiter-unge- zwungenen Publikum vor der Zugabe umgehend seine Komplimente aus- sprach. das wirkte in der Wärme der Worte etwas überraschend, nachdem von Begeisterung in seinem spiel eher wenig zu hören war. nur selten einmal, dass sich Zukerman im solopart von Hector Berlioz’ „Harold in italien“ aus einem Zustand tendenzieller gelang- weiltheit erhob. im Kreis des estonian festival Orchestra fällt solche nachläs- sigkeit gnadenlos auf: Paavo Järvis mu- siker – sie stammen aus estland und aus den europäischen Orchestern, denen er eng verbunden ist – spielen mit einer freiheit, inbrunst und anteil- nahme, die einem den atem ein ums andere mal stocken lassen. Kraftvoll und klar umrissen ist der Orchester- klang bei Paavo Järvi ja stets; wie ver- wurzelt steht er selbst auf dem dirigen- tenpodest und scheint irgendwelche energiequellen tief in der erde für sei- ne Orchester zu erschließen. nun zeigt sich der ton aber noch entschiedener, noch entschlossener und zuweilen na- hezu widerständig. Präsentiert gleich- wohl lachenden mundes – in Järvis fall mit kernigem nussknackerlächeln. la- chen ist bekanntlich auch eine art, der Welt die Zähne zu zeigen, und Zähne zeigen müssen und wollen die esten.

Estland steht der Ukraine zur Seite

„nach der ukraine wären wir die nächsten“, sagt Paavo Järvi im ge- spräch mit der f.a.Z. mit Blick auf den russischen angriffskrieg und verweist darauf, dass estland auf die Zahl der einwohner gerechnet der größte finan- zielle unterstützer der ukraine sei. die Kraft des aufgefrischten nationalbe- wusstseins, die Järvi ins international besetzte Orchester trägt, führt die grenzen der akustik vor im eher klei- nen, neunhundert Zuhörer fassenden Konzerthaus von Pärnu. Wollten sich die musiker auf die akustik einstellen, sie kämen aus dem Vorsichtigsein gar nicht mehr heraus. dazu hat man hier aber überhaupt keine lust: ein ums an- dere mal füllt sich der saal mit einem orchestralen tosen, das wie in eine druckkammer eingeschlossen scheint. das unterstreicht nur den eindruck,dass es hier nicht nur um ein Konzert geht, sondern um viel mehr. mögli- cherweise um alles.

die Krisen und Ängste der Zeit mö- gen im urlaubsort Pärnu, zweihundert Kilometer von der grenze zu russland entfernt, ein stück weit ausgeblendet sein, im Konzertsaal, in der Hingabe und in der dringlichkeit, wie hier mu- sik gemacht wird, sind sie zu spüren. mit Jüri reinveres „auf dem narren- schiff“ – einem auftragswerk des festi- valorchesters – bringt Paavo Järvi das stück der stunde zur uraufführung: ein scherzo voll düsterkeit, ironie und la- konischem Humor. inspiriert von se- bastian Brants mittelalter-Bestseller „das narrenschiff“ mit seinem Kern- satz: „die Welt will betrogen werden, also soll sie betrogen sein“, entwirft der estnische, in frankfurt lebende Komponist eine neue Welt der narren, in der nur jene weise sind, die sich ihres eigenen narrentums bewusst werden.

Schellenkappen der letzten Narren

schwer atmend setzt das Orchester ein in schwül tönendem Bläser-streicher- gemisch, die große trommel legt sich grollend und drohend unter das müh- same stöhnen und Ächzen. Vor dem unheilvollen Hintergrund zeichnen sich bald nervöse einzelstimmen ab: Klarinette, Oboe, Violine, aufgeregt plappernd, floskelhaft skalen auf- und abjagend, vor mächtigem Hintergrund sich selbst als zwergenhaft denunzie- rend. Zwischen beiden Polen entwi- ckelt reinvere nun eine griffige er- zählung, vielschichtig instrumentiert in einer technik orchestraler Verbun- denheit: die grenzen zwischen Blä- sern und streichern verschwimmen, zwanglos verbinden sich die instru- mente in immer neuen, überraschen- den Kombinationen, bis am ende nur noch liegende streichertöne übrig bleiben in einer atmosphäre gähnen- der, vielleicht auch erlöster leere. da- rüber glockenspiele, die unverzagt bimmeln und immer wieder abbre- chen, als wollten ihre spieler horchen, ob nicht doch noch ein echo aus der leere zu vernehmen sei. ein Klang- bild der kindlichen unschuld – oder einer erschütternden unwissenheit. Wenn es die schellen der narrenkap- pen sind, die da nachklingeln, dann sind es jene der letzten narren.

Beunruhigend, wie gut reinveres neues stück zu den Werken des fin de siècle passt, die Paavo Järvi folgen lässt. richard strauss’ tondichtung „tod und Verklärung“ etwa, die vom estonian festival Orchestra mit auf- wühlender intensität dargeboten wird. Oder alban Bergs sieben frühe lieder, die die estnische sopranistin mirjam mesak mit delikater intelligenz singt: am Wort orientiert, nur selten mit der vollen schönheit ihrer unerhört weich eingefassten stimme prunkend. es sind allesamt stücke der Vergänglichkeit und Wehmut, und wenn im anschluss noch Josef strauss’ „delirien“-Walzer gespielt wird, denkt man fast zwangs- läufig an einen „tanz auf dem Vulkan“.

Wie um die Kräfte wieder zu diszipli- nieren, gibt es den rákóczi-marsch als Zugabe in Hector Berlioz’ fassung. eine distanz zwischen Bühne und ju- belndem Publikum ist nun kaum mehr vorhanden, was als Konzert begann, wurde zur selbstvergewisserung einer gemeinschaft. „Wir müssen in diesen Zeiten eng zusammenstehen als es- ten“, sagt Paavo Järvi. in Pärnu ist es zu erleben, lachenden munds.




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