Pärnu Music Festival: Paavo Järvi manövriert das „Narrenschiff“ sicher in den Festivalhafen Pärnus

klassik-begeistert

18.07.23

Petra und Dr. Guido Grass

Photo Credits Kaupo Kikkas

Eine Reinvere-Uraufführung und ein Programm auf höchstem Niveau würdigt das Pärnuer Publikum mit Hingabe. Nach absoluter Stille lange über den Schlussakkord hinaus bricht enthusiastischer Applaus los. Das erlebt man so nicht oft, findet auch der Solist Pinchas Zukerman.

Pärnu, Estland, Pärnu kontserdimaja, 15. Juli 2023

Estonian Festival Orchestra

Pinchas Zukerman (Viola)
Amanda Forsyth (Cello)

Leitung: Paavo Järvi

Programm:

Jüri Reinvere
On the Ship of Fools (Uraufführung)

Richard Strauss
Tod und Verklärung, op. 24

Max Bruch
Kol Nidrei, op. 47

Hector Berlioz
Sinfonie „Harold en Italie“, op. 16

Zugabe:

Georg Friedrich Telemann
Konzert für Viola, Streicher und Basso Continuo G-Dur: 1. Satz

von Petra und Dr. Guido Grass

Halbzeit beim Pärnu Music Festival. Die „Sommerhauptstadt“ Estlands macht heute ihrem Ruf alle Ehre: Die Sonne strahlt ins Foyer der modernen Konzerthalle. Die Festivalgemeinde rund um die Dirigentenfamilie Järvi plaudert angeregt zumeist auf estnisch. Die Konzerthalle ist bald bis auf den letzten Platz besetzt.

Auch die Bühne füllt sich unter dem Applaus der Zuschauer mit den Musikern des Estonian Festival Orchestras. „Füllen“ ist hierbei durchaus wörtlich zu verstehen: Für die angekündigten romantisch symphonischen Werke reicht der Platz auf der Bühne kaum aus, so dass sich Paavo Järvi den Weg durch die Musiker zum Pult schlängelnd bahnen muss.

Bei der Uraufführung segelt ein Schiff voller Narren

Jüri Reinvere ist nach Arvo Pärt ein führender zeitgenössischer Komponist aus Estland, dessen Werke international regelmäßig Beachtung finden. Heute läuft sein „On the Ship of Fools“ als Uraufführung vom Stapel.

Zu Beginn irrt das „Narrenschiff“ im Klangnebel umher, bis sich die Violine zu Wort meldet. Gefahr liegt in der Luft; mit dem Donnergrollen der Pauken scheint das Unheil unausweichlich. Unerbittlich tickt monoton und durchdringend die Zeitbombe der Perkussionisten. Die tickenden Sekunden der Klangstäbe werden durch das Klingen der Triangel ergänzt, so wie alte Uhren die Viertelstunden zeigen. Fröhliche Tanzrhythmen mischen sich mit bedrohlichen Klängen: Die Titanic tanzt. Doch unter das Partyvolk mischen sich die Klapperschlangen und treiben die Stimmung auf den Höhepunkt.

Mit den stark gedämpften, quäkenden Tönen der Trompeten kommt es im Tutti zur Eskalation. Erneut gewinnt die Violine die Oberhand, immer wieder gibt sie Klangfolgen vor, die im Orchester „viral gehen“. Das Orchester plappert unreflektiert nach und zwitschert ein vielfaches Echo.

Reinvere hat mit dieser Komposition ein wahres Kunstwerk erschaffen. Nach eigener Aussage fordert er den Hörer auf “to understand the world and their lives in a different way than everyday opinion forums allow“.

Tatsächlich kann man aktuelle politische und gesellschaftliche Bezüge herstellen. Zum Glück hat diese Musik jedoch universelles Potential und damit gute Aussichten noch oft zu erklingen.

Jüri Reinvere (Mitte) © Dr. Guido Grass

Das findet offensichtlich auch das Publikum im Saal: Es dankt dem Orchester und dem anwesenden Komponisten mit großem und herzlichem Beifall. Wir freuen uns auf jeden Fall auf die Wiederholung am folgenden Abend und sind gespannt, welche neue Nuancen wir hören werden.

Strauss’ „Tod und Verklärung“ bringt den Saal an seine Grenzen

Die Geschichte eines Kranken, der im Sterben liegt und sich seines erfüllten Lebens erinnert, erzählt Strauss’ „Tod und Verklärung“, op. 24.

Im wunderschönen Pianissimo lässt Järvi die gedämpften Violinen und Bratschen beginnen. Auch wenn die Pauken ebenso zart geschlagen werden, künden sie doch das drohende Unheil. Überzeugend, wie die Melodien der Kindheit vom Holz dargeboten werden.

Mit dem sprichwörtlichen Paukenschlag beginnt der zweite Abschnitt „Allegro molto agitato“, der den Todeskampf darstellen soll. Wie auch die anderen Instrumente exakt synchron auf Eins da sind (für Besserwisser: im Takt auf Vier), zeigt eine gute Abstimmung innerhalb des Orchesters und mit seinem Dirigenten. Mit heftigen Armgesten treibt dieser nun das Orchester zur Steigerung. Im Fortissimo kommt der Saal krachend an seine Grenzen. Dem mitreißenden Gefühl, welches von der Musik ausgeht, tut dies jedoch keinen Abbruch.

Wie so oft liegt die Stärke der Darbietung nicht in den lauten, reißerischen Stellen, sondern dort, wo es leise wird. Es gibt wohl wenige Stücke, in denen das Tamtam über so viele Takte leise angeschlagen wird. Mit besonderer Gleichmäßigkeit gelingt dies heute Abend dem Perkussionisten.

Wenn Järvi von den Streichern maximale Emphase einfordert, lässt sich auch das Blech nicht lange bitten. Umso stärker das Gefühl der Erlösung, wenn das Stück in lang gehaltenen Tönen im Pianissimo endet. Gänsehaut pur.

Das Publikum verharrt noch etliche Sekunden in gebannter Stille, selbst als der Taktstock bereits gesunken ist. Verdienter frenetischer Applaus für die Solisten.

Amanda Forsyth lässt die jüdischen Melodien singen

Max Bruchs „Kol Nidrei“ ist deutlich seltener in den Konzertsälen zu hören als sein Violinkonzert Nr. 1. Es basiert auf zwei jüdischen Melodien. Eine davon wird am Vorabend des höchsten jüdischen Feiertags, dem Yom Kippur, vom Kantor der Gemeinde deklamiert. Hieraus hat Bruch ein eigenes Werk geschaffen, dessen jüdische Herkunft nur selten offen wahrnehmbar ist.

Amanda Forsyth bringt diese Melodien warm zum Singen. Sauber in der Intonation und mit mäßigem Vibrato setzt sie sich als Solistin über das Orchester hinweg. Auffällig ist die gute Kommunikation, die hier nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar ist. Sie ist nicht die in sich und der Musik versunkene Interpretin, sondern nimmt mit wachen Augen die Orchestermusiker um sich herum, aber auch das Publikum wahr. Immer wieder tauscht sie offene Blicke nicht mit Järvi und dem Stimmführer der Cellisten.

Es ist etwas ungewöhnlich, dass Solisten im zweiten Teil eines Konzerts, nach der Pause auftreten. Hier ergibt es jedoch programmatisch großen Sinn. Nach den Klanggewalten Strauss’ öffnen sich die Ohren für eine ganz andere Klangwelt.

Pärnu Music Festival, Amanda Forsyth (links) und Paavo Järvi © Kaupo Kikkas

Mit Küsschen bedanken sich Forsyth und der Konzertmeister. Eine freundliche Geste ist auch, wie sie ihre Blumen an den Stimmführer der Celli weitergibt. Die Chemie mit dem Orchester scheint nicht nur musikalisch zu stimmen.

Zukerman spielt die Viola virtuos unvirtuos

Deutlich zurückhaltender im Auftreten – zumindest zunächst – ist ihr Ehemann Pinchas Zukerman. In „Harold en Italie“ von Hector Berlioz übernimmt er den Solopart der Bratsche. Dennoch ist ohrenfällig, wie gut die Soloviola und das Orchester aufeinander abgestimmt sind und aufeinander hören.

„Harold en Italie“ ist kein Virtuosenstück. Dass Zukerman dennoch ein Virtuose ist, zeigt sich in den Klangfarben, die er seinem Instrument zu entlocken vermag.  Schließt man die Augen, fällt es schwer, seine Stimme bei den tiefen Stellen von der eines Cellos und bei den hohen von einer warmen Violine zu unterscheiden.

Paavo Järvi tänzelt leicht vor Beginn des dritten Satzes. Das Orchester übernimmt diesen Impuls unmittelbar im lebendigen, lustigen Reigen. Brüderlich vereint sind Soloviola und die Solovioline des Konzertmeisters bei den Unisono-Stellen.

Wie schon zuvor bei Strauss gelingt der Einsatz beim Attacca gespielten vierten Satz perfekt. Da der Solovioline zu weiten Teilen dieses Satzes keine Rolle zukommt, nimmt Zukerman platz und spielt in der Bratschergruppe mit, in die er sich perfekt einfügt. Noch einmal wird er kurz vor Schluss solistisch das Thema des Pilgermarsches darbieten.

„I never thought, that I would play at my birthday.“

Während heftiger Applaus und Bravo-Rufe aufbrausen, bedankt er sich – ganz bescheiden – mit dem Rücken zum Publikum stehend ausgiebig beim Orchester. Nachdem Järvi ihn zum Publikum gedreht hat, ist kein Halten mehr: stehende Ovationen. Unsere Augen suchen die Ränge und Reihen ab, aber niemand hält es noch auf seinem Platz.

Estonian Festival Orchestra, Pinchas Zukerman (links) und Paavo Järvi © Kaupo Kikkas

Zukerman ist sehr bewegt: „I never thought, that I would play at my birthday.“ Vom Enthusiasmus aller überwältigt tut er es heute doch und gibt mit dem Orchester als Zugabe den ersten Satz aus Georg Friedrich Telemanns Konzert für Viola G-Dur.

Die Stimmung im Saal ist überwältigend: Järvi stimmt mit dem Orchester „Happy Birthday“an und der ganze Saal singt mit!

Zur Festivalhalbzeit sind wir angereist und schon am ersten Abend mitten im Festivalgefühl: Pärnu – eine Entdeckung!

https://klassik-begeistert.de/estonian-festival-orchestra-pinchas-zukerman-viola-amanda-forsyth-cello-paavo-jaervi-dirigent-paernu-estland-paernu-kontserdimaja-15-juli-2023/?fbclid=IwAR0m06l7hhJHYurUhyPzF6T_vY4YEyEQfRg3yJUa_3nAp0TcgkJX8oeg_Bw_aem_AXpwbSf3mO7v4txm7n1GXxtaU5uWclV0eq9xAjZwQehnCIo2cRuwhNcq4Hqnz6_YfOI#more-50351 

Comments

Popular Posts