Pärnu Music Festival: Leleux zaubert mit der Oboe beim ersten Abschlusskonzert
Klassik Begeistert
27.07.23
Das zehntägige Fest der Järvi-Dynastie geht dem Ende entgegen: Ein Anlass für estnische Familien, sich in den schönsten Sommerkleidern zu präsentieren. Ein Hauch von festlicher Gala liegt in der Luft.
Wenn noch im Foyer das Buffet mit herrlichen Sahnetorten an Omas Geburtstagsfeier erinnert, ist es mit der Beschaulichkeit schon bei den ersten Tönen der „Collage über B-A-C-H“ von Arvo Pärt vorbei. Im Gegenteil, die Musik ist spannend und voller überraschender Wechsel.
Der estnische Komponist (geb. 1935) experimentierte in jungen Jahren mit verschiedenen Stilen und komponierte sogar verschiedene Filmmusiken. In der „Collage über B-A-C-H“ geraten nach wenigen harmonischen Tonfolgen die Streicher mit scharfen Dissonanzen lauter und schriller werdend in Aufruhr.
Man denke an Alfred Hitchcocks „Psycho“: Gleich wird der Mörder mit dem Messer in der Hand den Duschvorhang wegziehen und unweigerlich zustechen.
Doch bevor wir in Schockstarre verfallen, schaltet Pärt schon auf einen anderen Sender um, absolutes Kontrastprogramm. Beruhigende weiche Oboenklänge empfangen uns in der Sarabande, leiten uns weiter zum Cembalo, zurück ins Barockzeitalter. Die Neuzeit setzt der barocken Melodie schnell ein Ende: Das Cembalo wird vom Klavier ersetzt. Dichte Cluster und Dissonanzen erschrecken. In abruptem Wechsel geht es nun zwischen den beiden Stylen hin und her und wir fühlen uns wie in einem höchst anregendem Wechselbad.
Damit die Musik so wirken kann, bedarf es einer exakten Orchesterführung. Kleinste Unzeitigkeiten würden den Effekt zunichte machen. Das Estonian Festival Orchestra hat unter Paavo Järvi keinerlei Probleme, diesen hohen Anforderungen Rechnung zu tragen. Die Bögen der Violinen und Bratschen schnellen perfekt synchron nach oben und unten. Das ist auch ein Genuss für die Augen.
Zum folgenden Ricercar gibt Järvi jeweils mit einer tänzerischen Vierteldrehung den Einsatz und macht so auch für die Zuhörer sehr deutlich, dass nun verschiedene Stimmen ihren Einsatz haben. Nun kommen Harmonie und Disharmonie zusammen und umgarnen sich gegenseitig. Völlig überraschend endet das Werk ganz optimistisch mit einem Dur-Akkord.
François Leleux entlockt der Oboe atemberaubende Melodien
Das Oboenkonzert in D-Dur von Richard Strauss geht den Erzählungen nach auf die Anregung eines amerikanischen Besatzungssoldaten zurück, der Strauss seinerzeit gefragt hatte, ob er auch ein Stück für Oboe geschrieben habe. Es gehört wie seine Metamorphosen zu seinen Spätwerken, die Strauss selbst als „Handgelenksübungen“ bezeichnet hat. Vielleicht ist es als eine Antwort auf die in Trümmern liegende Umgebung zu verstehen, wenn dieses Werk von der „unendlichen Melodie“ geprägt wird.
Für den Solisten stellt diese Unendlichkeit eine immense Herausforderung dar. Ihm sind nur wenige Pausen gegönnt. Gerade die ersten beiden Seiten der Oboenstimme gelten von daher mit zu dem Schwierigsten, was die Oboen-Literatur zu bieten hat.
Kein Problem für den Oboen-Zaubermeister François Leleux. In weicher Linie und warmen Farben zeichnet er die Melodie in den Raum. Seine Oboe schwingt er in enorm großen Bögen wie einen Zauberstaub.
Wie schafft er es nur, aus in solcher Höhe über eine so lange Zeit einen brillant klaren Ton zu halten? Magische Kräfte müssen am Werke sein. Hinzu kommt die fabelhafte Akustik auf dem Balkon genau gegenüber dem Dirigentenpult , viel besser als im Parkett.
Immer wieder wird das Motiv des ersten Satzes in den Orchesterstimmen aufgegriffen. Wenn Leleux mit der ersten Klarinette (Matthew Hunt) so in den Dialog tritt, geht das Herz auf. Es wird hörbar, wie die beiden Holzbläser, Hunt und Leleux, auf einer Wellenlänge schwingen.
Im zweiten Satz, „Andante“, treten die Fagotte gekonnt hervor. Das Ende des Satzes gestalten Oboe, Klarinette, Hörner und Streicher ergreifend und inniglich. Er verklingt leise mit den letzten Tönen der Streicher und der Oboe.
Der letzte Satz ist nicht nur von seiner Tempobezeichnung „Vivace“ schnell, sondern durch die vorherrschenden Sechzehntel im Solopart und den anderen Orchesterstimmen. Auch hier spielen sich der Solisten und insbesondere die Holzbläser die melodischen Bälle auffallen gut zu. Eine guter Augenkontakt des Solisten mit dem Dirigenten gibt den Start zum aufregenden Schlussteil. Für Strauss beinahe untypisch setzt nach den wilden Läufen eine simple Note unisono im Fortissimo den Schlusspunkt.
Während das Publikum heftig klatscht bedankt sich Leleux ausdrücklich auch mit zeigender Geste beim ersten Klarinettisten – und dieser überschwänglich umgekehrt. Beim Publikum bedankt er sich gemeinsam mit dem Orchester mit einer erstklassigen Zugabe.
Wie er in der Transkription von „Der Hölle Rache“ aus Wolfgang Amadeus Mozarts „Die Zauberflöte“ auf der Oboe die Sopranstimme wiedergibt, sucht ihresgleichen. Atemberaubend schön gelingen auch die für die Oboe schwierigen Spitzentöne. Die von der Oboe vorgegebene dynamische Ausgestaltung wird vom Dirigenten perfekt an das Orchester vermittelt. Beseelt gehen wir in die Pause.
Unter Paavo Järvi werden die „Winterträume“ zum Sommermärchen
Pjotr Tschaikowskis Sinfonie Nr. 1 g-Moll, op. 13 „Winterträume“ wird deutlich seltener als seine „großen“ Sinfonien 4, 5 und 6 gespielt. Zu Unrecht, wie sich am heutigen Abend bestätigen wird. Das Frühwerk Tschaikowskis wird vom eigenen Erfolg des Komponisten überrollt.
Gleich zu Beginn des ersten Satzes, „Allegro tranquillo“, lässt Järvi das melancholische Thema von Flöte und Fagott über dem leisen Tremolo der Violinen hervortreten. Inmitten der dramatischen Entwicklung zwitschern zauberhaft die Flöten. Mit großen, ausladenden Gesten führt Järvi das Orchester im federnden Rhythmus zum Höhepunkt. Kein Wunder, dass das disziplinierte und kenntnisreiche Publikum einen kurzen Zwischenapplaus spendet.
In weichen Tönen lässt im zweiten Satz, „Adagio cantabile, ma non tanto“, die Oboe das zwischen Dur und Moll changierende Thema des Satzes erklingen. Auch hier kann das Holz wieder seine Stärken zeigen, neben der Oboe besonders die Flöten und Fagotte. Wenn nun die Hörner das Thema aufnehmen, untermalen die Streicher dramatisch, bevor der Satz sich ruhig dem Ende neigt.
Attacca beginnt der dritte Satz, „Allegro scherzando giocoso“. Freier als vorher lässt Järvi hier das Orchester spielen. So gelingt ihm eine rhythmisch und dynamisch besonders lebendige Gestaltung.
Nach der düsteren Einleitung des letzten Satzes markiert eine Generalpause den Stimmungswechsel. Dramatisch wirkungsvoll lässt hierbei Järvi das Orchester aufstoppen. Tänzerisch führt er das Orchester in einer ganz allmählichen Steigerung von Lautstärke und Geschwindigkeit zum Schluss. Effektvoll lässt er auf dem Weg das Blech aufspielen. Großes Finale.
Und großer Beifall im Stehen vom begeisterten Publikum. Mit rhythmischen Klatschen werden Järvi und sein Orchester zur Zugabe motiviert.
Das begeisterte Publikum wird mit zwei Zugaben beschenkt
Die Zuhörer sind ganz hingerissen von Hugo Alfvéns „Vallflickans dans“. Obwohl Järvi sich noch umdreht, um das Publikum vor dem ruhigen Mittelteil zu bremsen, kann es nicht anders als auch hier nach der spritzigen Einleitung einen Zwischenapplaus zu spenden. Wie sollte man es ihm auch verdenken, wenn der schnelle Tanz der Schafhirtin so verzückend gespielt wird?
Erst nach einer weiteren ebenso lebhaften Zugabe, der Csárdás aus Leo Weiners „Divertimento für Streicher D-Dur Nr. 1, op. 20“, lässt das Publikum Dirigent und Orchester vom Podium.
Wir verlassen glücklich und traurig zugleich das Konzerthaus. Für uns geht ein großartiges Musikfestival zu Ende.
Petra und Dr. Guido Grass, 27. Juli 2023
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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