Russe ist nicht gleich Russe: Lisa Batiashvili beim Tonhalle-Orchester Zürich
Bachtrack
Von Thomas Schacher,
24 Oktober 2024
Die beiden Werke sind im selben Jahrzehnt geschaffen worden. Und beide stammen von russischen Komponisten. Aber die künstlerischen und persönlichen Lebensumstände von Sergej Prokofjew und von Dmitri Schostakowitsch könnten in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts unterschiedlicher nicht gewesen sein. Der fünfzehn Jahre ältere Prokofjew, der nach der Oktoberrevolution in den Westen geflüchtet war, konnte da nicht richtig Fuß fassen und sehnte sich in sein Heimatland – das stalinistische Russland – zurück. Schostakowitsch, der in Russland geblieben war, musste seit der ominösen Rüge in der Parteizeitung „Prawda“ um sein Leben fürchten und diente sich dem stalinistischen System, mindestens dem Schein nach, an.
Das 1935 entstandene Violinkonzert Nr. 2 in g-Moll ist Prokofjews letzte große Komposition vor seiner Rückkehr nach Russland. Wer es aufführen will, muss sich gut überlegen, wem er den Solopart anvertrauen möchte. Paavo Järvi, der Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich, entschied sich für die Geigerin Lisa Batiashvili. Diese ist in Zürich ein gerne gesehener Gast, war sie doch in der Saison 2015/16, noch vor Järvis Amtsantritt, Artist in Residence in der Tonhalle. Im Vergleich zu etlichen anderen Geigenvirtuosen, die das Prokofjew-Konzert spielen, deutet Batiashvili es nicht als herkulischen Kraftakt oder akrobatische Zirkusnummer, sondern als ein durch und durch heiteres Gebilde. Und genau diese Deutung hatte auch Järvi im Sinn.
Der Dirigent ließ das Orchester in relativ kleiner Streicherbesetzung spielen – im Unterschied zur eingangs dargebotenen Don Giovanni-Ouvertüre – und bevorzugte einen transparenten, kammermusikalischen Stil. Die Solistin demonstrierte schon beim unbegleiteten Hauptthema des ersten Satzes, einem russischen Volkslied, ihre Absicht, einen melodiebetonten und duftenden Tonfall anzuschlagen. Und die durchaus auch vorhandenen virtuosen Partien bewältigte sich mühelos, scheinbar ohne Anstrengung, und hatte dabei stets noch ein Lächeln im Gesicht.
Im langsamen Satz konnte man das wunderbare Wechselspiel zwischen der Solistin und dem Tutti verfolgen. Geradezu paradigmatisch zeigte sich dies in den Schlusstakten, als das zu Beginn von der Violine vorgetragene Hauptthema in den tiefen Orchesterinstrumenten erklang, während die Solistin dazu im Pizzicato die Begleitung markierte. Den Schlusssatz interpretierten die Ausführenden als lockeren Kehraus, bei dem der Komponist, als Reverenz an den Uraufführungsort Madrid, auch zwei Kastagnetten verwendet. Sehr gut zum Violinkonzert passte dann die Zugabe mit dem Satz Tanz der Ritter aus Prokofjews Ballett-Suite Romeo und Julia, den Batiashvili für Solovioline und Orchester arrangiert hat.
Was für ein Kontrast dann im zweiten Teil des Abends! Schostakowitschs Symphonie Nr. 6 in h-Moll, 1939, also drei Jahre nach der „Prawda“-Rüge entstanden, gehört zu den eher selten aufgeführten Symphonien des Komponisten. Sie steht zwischen der Fünften, in der Schostakowitsch scheinbar auf die Kritik des zu modernen Stils einging, und der Siebten, der patriotischen „Leningrader“ Symphonie. Die Sechste hat kein Programm, verrät aber durchaus typische Merkmale, die auch in anderen Symphonien Schostakowitsch vorkommen.
Paavo Järvi, in einer Zeit in Estland geboren, als das Land zwangsweise noch Teil der Sowjetunion war, hat eine klare Sicht auf Schostakowitschs Sechste. Die Tatsache, dass das Werk keinen symphonietypischen Kopfsatz enthält, sondern mit einem Largo beginnt, das mehr als die Hälfte der Aufführungszeit beansprucht, spricht für ihn eine eindeutige Sprache. Er deutete den Satz als eine ergreifende Trauermusik, die sich mit großer Expressivität zu einem Höhepunkt aufschwingt, dann aber als völlig gebrochene, fast ausdruckslose Schattenmusik endet. Das Allegrobrachte dann scheinbar eine Erlösung, aber die vorgestellten Melodien und Motive erklangen so schrill und giftig, dass sie wie Fratzen wirkten. Das abschließende Presto erinnert von ferne an den Schlussteil von Rossinis Wilhelm Tell-Ouvertüre. Järvi wählte ein schnelles Tempo und jagte die Musiker durch den Satz, dass die Bläser kaum noch Atem kriegten. Der nach H-Dur gewendete Schluss stellte sich als ohrenbetäubender Lärm dar, den nur Ignoranten als lebensbejahenden Triumph deuten können. Die anderen verstehen, was gemeint ist.
Für eine außerordentlich heitere Note sorgte die Zugabe mit Schostakowitschs Tahiti Trot, einer symphonischen Bearbeitung des Songs Tea for two aus dem Musical No, no, Nanette. Was für ein Chamäleon war doch dieser Komponist!
Comments