CONCERT REVIEW: Eine große Erzählung
Chefdirigent Paavo Järvi und sein hr-Sinfonieorchester.
Eine große Erzählung
Paavo Järvi und das hr-Orchester mit Schostakowitschs Siebter
Von Werner Fritsch
HNA.de, 10.12.2006
Kassel. Schostakowitschs siebte Sinfonie, die 1941 entstandene "Leningrader", ist eine große Menschheitserzählung, ein riesiges sinfonisches Gemälde. Darin ist die Not der Stadt Leningrad unter der deutschen Belagerung zu vernehmen, aber auch das Leid, das der Stalinismus über die Stadt brachte. Und am Ende, im lärmenden Siegeschoral, der das Werk beschließt, klingt neben dem Triumph der Befreiung auch eine utopische Hoffnung mit: dass das menschliche Leid insgesamt besiegt werden möge.
Paavo Järvi, der neue Chef des hr-Sinfonieorchesters, hat bei seinem ersten Gastauftritt (auf Einladung des Staatstheaters) in der gut gefüllten Kasseler Stadthalle mit seiner Siebten einen Markstein gesetzt. Mehr als eineinhalb Stunden ließ sich der 44-jährige estnische Stardirigent Zeit (andere brauchen bis zu einer Viertelstunde weniger), um die sinfonischen Weiten auszuschreiten.
Das Wunder dabei: Es gab nicht eine Sekunde klingenden Leerlaufs. Järvi schaffte es, die Sinfonie mit ihrer gewaltigen Architektur klar zu strukturieren und doch jedem Moment sein eigenes Gewicht zu geben. Das sinfonische Riesengemälde war bis ins Detail sorgfältig ausgemalt. Dazu ist Järvis Umgang mit Farben und Kontrasten schlichtweg virtuos.
Beispielhaft zeigte sich das im ersten Satz, in den ein zunächst ganz leises Trommelmotiv mit einer banalen Melodie einbricht. Diese werden (als wäre es der Bolero, von Mahler komponiert) in einer grandiosen Steigerung bis zum kriegerischen Inferno gesteigert. Die Passage wurde als "Invasion" berühmt.
Doch selten einmal ist diese Musik vom kaum hörbaren Pianissimo bis zum finalen Ausbruch in einer solch dynamischen Bandbreite, als derart packende Steigerung zu erleben. Die langen Passagen falscher Idylle und trauriger Verlorenheit vor allem im dritten Satz formt Järvi dagegen mit der Ruhe eines geduldigen Modellierers.
Dies alles ist nur möglich, weil er mit dem hr-Sinfonieorchesters einen hervorragenden Klangkörper mit insbesondere tollen Bläsern zur Verfügung hat. Dass die Blechbläser beim Finale noch ermüdungsfrei mit vollem, geformtem Fortissimo agieren konnten, verdient Bewunderung.
Eine perfekte Aufführung also? Als Einwand bleibt, dass Järvi vielleicht eine Spur zu kühl, zu routiniert wirkte. Das Gefühl, hier gehe es um alles, wollte sich nicht ganz einstellen. Dennoch: Der Jubel und die Standing Ovations waren hochverdient.
Und Radu Lupu, der große Pianist, der eingangs Beethovens fünftes Klavierkonzert spielte? Er erfüllte die (zu?) hohen Erwartungen nicht. Hätte Franz Schubert Klavierkonzerte geschrieben, dann wäre Lupu vermutlich sein bester Interpret. Feinste klangliche Differenzierungen im Mittelsatz des Emperor-Konzerts ließen die Klasse des 61-Jährigen ahnen. Doch in den Ecksätzen ließ er es an Kraft, rhythmischer Beständigkeit und technischer Klarheit fehlen.
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