Der perfekte Soundtrack für das Beethoven-Jahr

rp-online.de
Wolfran Goertz
4.01.2020

Die Sinfonien – von René Leibowitz und Hermann Scherchen bis zu Paavo Järvi

Schwere Entscheidung. Gesamtaufnahmen von exemplarischer Qualität sind rar. Menschen mit Ausdauer sollten versuchen, die legendäre Londoner Box unter René Leibowitz (mit dem Royal Philharmonic Orchestra) antiquarisch oder bei einem Online-Anbieter zu bekommen (oder bei Youtube zu hören). Dieser Beethoven ist vehement, streng, ungeheuer lebendig, fabelhaft in den Details – und für viele Fans die Referenz-Aufnahme.

Eine sehr gute Alternative ist die Gesamteinspielung unter Paavo Järvi mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen (Sony): ebenso vital, vielleicht im Hitzegrad weniger brennend als Leibowitz, aber energetisch gespannt – und von fabelhafter instrumentaler Kompetenz. Ich halte Järvi für einen der bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart, aber weil der Markt weiterhin von Leuten wie Thielemann und Barenboim beherrscht wird (von dessen Beethoven aus Gründen des Selbst- und des Komponisten-Schutzes dringend abzuraten ist), gehen die wirklich guten Aufnahmen unter.

Eine exemplarische Einzelaufnahme der Sinfonien ist die unfassbar intensive Einspielung der „Eroica“ von 1958 unter Hermann Scherchen. Diese Aufnahme brennt sich dem Hörer ein wie der Abdruck eines Hufeisens. Möglicherweise die ultimative Beethoven-Aufnahme überhaupt. Man bekommt sie über Youtube oder als CD über die „Westminster Legacy“-Box (zusammen mit den ebenso überwältigenden Sinfonien Nr. 2, 4, 6 und 8). Vorsicht: Scherchen hat alle Beethoven-Sinfonien zwei Mal mit dem Orchester der Wiener Staatsoper aufgenommen, den ersten Zyklus bereits in den frühen 1950er Jahren eingespielt, dieser Beethoven klingt aber fast zahm. Erst später wurde Scherchen apodiktisch und feuerköpfisch. Wie man hört, will die Deutsche Grammophon im März alle Neune unter Scherchen als Box herausbringen. Sollten es die späten Aufnahmen sein: sofort zugreifen!


Die Konzerte – unvergesslich mit Glenn Gould und Isabelle Faust

Wer bei dem Pianisten Glenn Gould die Nase rümpft, sollte sich mal anhören, wie er die fünf Klavierkonzerte spielt. Da geht er mitnichten frivol, sondern stürmisch vor, interessiert an Details, trotzdem durchsichtig bis zum Meeresgrund. Eine Offenbarung ist die von Glenn Goold selbst komponierte, zwischen „Meistersinger“-Ouvertüre und Max Reger schwankende Kadenz im Kopfsatz des 1. Klavierkonzerts C-Dur. Wer da nicht fassungslos vor Glück zurückbleibt, dem ist nicht mehr zu helfen. Diverse Orchester, am Pult stehen Leonard Bernstein und Leopold Stokowski (erschienen bei Sony).

Das Violinkonzert gibt es in vielen guten Aufnahmen. Die frühe Menuhin-Aufnahme ist weiterhin herrlich. Ich empfehle hier die Einspielung der Geigerin Isabelle Faust mit dem Orchestra Mozart unter Claudio Abbado, die Sinnlichkeit und Süße mit moderner Gesinnung und Formstrenge verbindet (Harmonia mundi).


Die Streichquartette – spektakuläre Erforschung des kleinsten Raumes

Der Autor dieser Zeilen erlebte seine persönliche Bahnung für Beethovens Quartette in den späten 70er Jahren in der Festhalle Viersen. Dort gastierte das wunderbare Alban-Berg-Quartett und spielte unter anderem das Quartett e-Moll op. 59/2. Bis heute ist ihre in jenen Jahren für die EMI entstandene Gesamtaufnahme des in Wien angesiedelten Ensembles unentbehrlich für jede Beethoven-Diskothek: expressiv, genau, aber nie sektiererisch, sondern mit einer gewissen Eleganz in den frühen Quartetten und mit der angemessenen Hingabe an den geradezu konvulsivischen Tonfall, der stellenweise in den späten Quartetten herrscht. Auf sieben CDs herrscht der Geist der Aufklärung und der beginnenden Romantik. Bei einigen Anbietern bekommt man diese Box für unter 20 Euro. Sofort zuschlagen!

Für ähnlich wenig Geld bekommt man die zweite Referenz-Aufnahme aller 16 Streichquartette, die das Emerson String Quartet in den 90er Jahren für die Deutsche Grammophon einspielte. Hier ist die spieltechnische Brillanz (die in diesen Werken angesichts von Beethovens prekären Anforderungen eine zentrale Rolle spielt) fast noch höher zu bewerten, was aber nicht bedeutet, dass die Musiker aufs Äußerliche setzen. Im Gegenteil: Gerade in den späten Quartetten glücken ihnen Wunder an Einfühlung, visionärer, ja ruppiger Dynamik, leuchtender Farbigkeit. Den geradezu weltfernen langsamen Satz von Opus 132 („Heiliger Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit“) spielen die Musiker dermaßen scheu, als werde in diesem Musik die Epoche der Klassik verlassen. Es ist ja auch so.


„Missa solemnis“ – ein Chorwerk weist in die Zukunft

Der Philosoph und Musikkenner Theodor W. Adorno bemühte bei den späten Kompositionen Ludwig van Beethovens gelegentlich den Begriff der „Inkommensurabilität“. Damit meinte er die Unvereinbarkeit zweier Dinge – etwa der „Missa solemnis“ mit der Epoche, in der sie entstand. Oder die Unvereinbarkeit der Musik mit der Kompetenz der damaligen Musiker zur Zeit der Entstehung. Die „Missa“ weist kühn voraus, ebenso wie die späten Streichquartette, sie schert sich nicht um die Singstimme und die „elende Geige“, wie Beethoven einmal unwirsch schrieb.

Hier braucht man einen Chor, für den die absurden Höhen keinerlei Begrenzung darstellen – wie den Monteverdi Choir unter John Eliot Gardiner. Der hat das Werk zwei Mal aufgenommen, die frühere Version aus dem Jahr 1989 (mit den Solisten Charlotte Margiono, Catherine Robbin, William Kendall und Alastair Miles; bei Archiv Produktion) ist eindeutig die bessere. Gardiner treibt die Musiker geradezu ekstatisch an, trotzdem herrscht eine bestechende Balance, zerfällt nichts vor lauter Mühsal. Wenn eine „Missa“, dann diese!

https://rp-online.de/kultur/die-besten-aufnahmen-des-grossen-komponisten_aid-48060907

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