Dieser Saal klingt noch prächtiger als das KKL

nzz.ch
Christian Wildhagen
22.01.2020

Erstmals seit seinem Antritt in Zürich geht Paavo Järvi mit dem Tonhalle-Orchester auf Europa-Tournee. Bei den gemeinsamen Konzerten in Innsbruck, Wien, Budapest und Dortmund gibt es Offenbarungen – künstlerische wie akustische.
Uncle Sam wants . . . you: Musikdirektor Paavo Järvi gibt einen unmissverständlichen Einsatz.

Uncle Sam wants . . . you: Musikdirektor Paavo Järvi gibt einen unmissverständlichen Einsatz.
János Posztos /
Müpa Budapest

Schon bevor Paavo Järvi im Oktober den Stab als Musikdirektor beim Tonhalle-Orchester Zürich übernahm, ging er mit den Musikerinnen und Musikern auf Tournee – ins klassikverliebte Asien, wo für Künstler aus Europa immer noch Goldgräberstimmung herrscht. Damals dachte man sich nicht viel dabei, es war halt die Zeit der Flitterwochen, und das Orchester erschien durch die Vorfreude auf den neuen Chef bereits hörbar beflügelt. Doch gut drei Monate nach Järvis eigentlichem Amtsantritt wurden jetzt erneut in grossem Stil die Koffer gepackt. Diesmal ging es kreuz und quer durch Mitteleuropa, und plötzlich war klar: Der «Neue» meint es ernst.

Womit? Nun, mit einem Vorsatz, den Järvi in seiner nordisch-zurückhaltenden Art nur wie nebenbei geäussert hatte, bescheiden, eher als Arbeitshypothese denn als ein laut hinausposauntes Programm: Das Tonhalle-Orchester habe das Zeug, zu den besten fünf Klangkörpern weltweit zu gehören, und genau das wolle er der Welt zeigen. Nach der am Montag zu Ende gegangenen Europa-Tournee, die von Innsbruck über Wien und Budapest schliesslich ins eindrucksvolle Konzerthaus in Dortmund führte, lässt sich sagen: Der Herr Musikdirektor hat den Mund keineswegs zu voll genommen. Wenn einer es schaffen kann, diesem hochgesteckten Anspruch gerecht zu werden, dann er – im Verbund mit diesen Musikern.

Wachstum durch Wechsel

Tourneen bringen es mit sich, dass meist ein und dasselbe Programm nacheinander an mehreren Orten gespielt wird. Das kann für die Ausführenden wie für mitreisende Hörer zu einer Art Dauerschleife werden, in der die zuvor einstudierten Interpretationen gleichsam bloss noch wie aus einer Datenbank abgerufen werden, dabei stets bedroht von Routine und Abstumpfung. Oder es kann zu einem inneren Wachstum kommen, fast in Goethischem Sinne, wobei gerade der Wechsel der Umstände, der Aufführungsorte und der jeweiligen akustischen Gegebenheiten, des Publikums und der Stimmungen im Ensemble, die Wiedergabe selbst bereichert.

Im Verlauf der ersten drei Etappen geschah ebendies beim Tonhalle-Orchester in beinahe exemplarischer Weise. Während die Musiker den akustisch sehr trockenen Tiroler Saal im Congress Innsbruck nach eigenem Bekunden als schwierig und gewöhnungsbedürftig empfanden, trafen sie in Wien und Budapest auf zwei herausragende Konzerthallen, die nicht zuletzt durch ihre extreme Verschiedenheit inspirierend auf ihr Spiel zurückwirkten.



Das Wiener Konzerthaus von 1913 ist – wie das Opernhaus und die Tonhalle in Zürich – ein Werk des Architekturbüros Fellner und Helmer, dessen Theaterbauten bis heute viele Städte prägen. Dennoch steht es etwas im Schatten des berühmteren Musikvereins, dessen Goldener Saal klanglich seit nunmehr 150 Jahren als das Mass aller Dinge gilt, zumindest beim klassischen «Schuhschachtel»-Grundriss. Das Gastspiel im Grossen Saal des Konzerthauses, dessen knapp 1900 Plätze an dem Abend nahezu ausverkauft sind, fühlt sich indes für das Orchester an wie ein Nach-Hause-Kommen – eine vorzeitige Heimkehr in den gewohnten Rahmen der historischen Tonhalle am Zürichsee, die erst 2021 nach umfassender Renovation und Rekonstruktion wieder bezugsfertig sein soll.

Wie schnell sich die Musiker an den ähnlich romantisch-sonoren Grundklang des Konzerthauses adaptieren, ist schon bei einer ersten Anspielprobe im noch leeren Saal faszinierend mitzuerleben. Es ist, als habe jemand die Schraubzwinge gelöst, die das Orchester im notgedrungen kleineren Interim der Zürcher Tonhalle Maag beengt. Und plötzlich meint man auch zu begreifen, warum Järvi in der heimischen Maag-Halle ein ums andere Mal an (und über) die akustischen Grenzen geht: Für ihn steht offenbar die so glücklich wiedergewonnene Spielfreude, ja, die unmittelbar zu spürende Hochstimmung des Orchesters im Vordergrund; ihr will er buchstäblich den nötigen Raum geben.
Die beste aller Klang-Welten

Freilich hält das Konzerthaus, im Unterschied zur Maag, die dynamischen Spitzen in Peter Tschaikowskys 5. Sinfonie – dem vorher in Zürich an drei umjubelten Konzerten erprobten Hauptwerk der Tournee – ohne Einbussen bei der Transparenz aus. Der Ton der Violinen und insbesondere der Bratschen, die allesamt in der Tonhalle Maag mitunter zu kämpfen haben, blüht und leuchtet wieder frei und offen. Järvis zu Amtsantritt formuliertes Ziel, mit Tschaikowskys melodien- und ausdrucksgesättigter Musik namentlich dem Streicherklang des Orchesters frischen Glanz zu verleihen, zeigt bereits Wirkung.



Mehr Farben, mehr Holz, aber das Vorbild dieses Saales steht unverkennbar in Luzern: Das Tonhalle-Orchester Zürich spielt unter Paavo Järvi erstmals im «Bartók Béla Nemzeti Hangversenyterem», dem Béla-Bartók-Auditorium in Budapest.
János Posztos /
Müpa Budapest

Doch es kam noch besser. In Budapest steht seit 2005 das Kulturzentrum «Müpa» (kurz für: Művészetek Palotája, der Palast der Künste) mit dem Béla-Bartók-Auditorium als Herzkammer. Dieser Saal ist eine geringfügig vergrösserte und deutlich buntere Neuauflage der Salle blanche im KKL. Er ist zugleich das letzte vollendete Projekt des legendären Akustikers Russell Johnson, der sein Luzerner Konzept – inklusive der Nachhall-Kammern und des verstellbaren Reflektors – hier nochmals optimiert hat. So glaubt man denn wirklich, in der besten aller Welten zu sitzen, wenn zum Wohlklang à la Wien noch Luzerner Klarheit und Farbigkeit treten.

Tschaikowskys Fünfte lässt dies derart wie von innen heraus strahlen, dass ihr oft hohlwangig tönender Triumph-Schluss überhaupt nichts Aufgesetztes mehr hat. Aaron Coplands Klarinettenkonzert (mit dem charismatischen Solisten Martin Fröst) und vor allem die mutig zum Einstand gespielte «Tanz-Suite» von Bartók gewinnen in ihren kleineren Besetzungen sogar noch stärker an Klangtiefe und fast greifbar in den Raum gestellter Plastizität. Das Publikum, durch Iván Fischers Budapest Festival Orchestra Erstklassiges gewohnt, ist danach dennoch ganz aus dem Häuschen. Laut Tonhalle-Archiv war dies das erste Ungarn-Gastspiel des Orchesters überhaupt. Es soll nach dem Willen aller Beteiligten nicht das letzte bleiben.

https://www.nzz.ch/feuilleton/tonhalle-orchester-zuerich-auf-tournee-dieser-saal-klingt-noch-praechtiger-als-das-kkl-ld.1535382

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