Tonhalle: Paavo Järvi und der Wildfang

nzz.ch
Christian Wildhagen
9.01.2020

Bei seinem Zyklus aller Tschaikowsky-Sinfonien ist der neue Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich bei der berühmten Fünften und der kaum gespielten Zweiten angekommen – eine faszinierende Gegenüberstellung.

Paavo Järvi ist seit Oktober 2019 Musikdirektor und Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich.
Paavo Järvi ist seit Oktober 2019 Musikdirektor und Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich. Paavo Järvi ist seit Oktober 2019 Musikdirektor und Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich. Paavo Järvi ist seit Oktober 2019 Musikdirektor und Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich.
Zu den sanften Zwängen bei einem Tschaikowsky-Zyklus, wie ihn Zürichs neuer Musikdirektor Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester seit dessen Amtsantritt im Oktober 2019 realisieren, gehört die Verpflichtung, sich auch mit den drei frühen Sinfonien des Komponisten auseinanderzusetzen. Das bedeutet für fast jeden Klangkörper echte Arbeit. Denn während alle Welt die Vierte, die Fünfte und die überragende «Pathétique» liebt, führen nur wenige Orchester die «Polnische» oder die «Kleinrussische» im Repertoire. Letztere, die 2. Sinfonie op. 17 von 1872, haben die Tonhalle-Musiker zuletzt unter Gerd Albrecht gespielt; das war im Jahr 1978.

Der Abstand von über vierzig Jahren legt die Absurdität einer derart selektiven Rezeption offen, die sich die Musikwelt bis heute ähnlich bei den frühen Sinfonien von Schubert und Dvořák leistet. Umso verdienstvoller, dass Paavo Järvi nun zumindest die Lücke bei Tschaikowsky schloss. Das Stück selbst erweist sich allerdings in der präzise durchgearbeiteten Wiedereinstudierung mit dem aufgeschlossen und stellenweise regelrecht begeistert mitwirkenden Tonhalle-Orchester als ziemlicher Wildfang.
Stilhöhen-Mix

Obwohl die gespielte Überarbeitung der Zweiten aus der Zeit des «Eugen Onegin» stammt, ist Tschaikowsky hier noch auf dem Weg zu jenen grossen sinfonischen Erzählungen, jenen packenden Seelendramen, die dann ab der Vierten gelingen und in der «Pathétique» gipfeln. In der Zweiten, deren Beiname auf die Verwendung «kleinrussischer», das meint: ukrainischer Volkslieder verweist, steht Erhabenes unvermittelt neben Einfachstem (und manchmal Banalem). Mit diesem charakteristischen Stilhöhen-Mix, der ihn auch in späteren Werken immer wieder in Selbstzweifel stürzen wird, hat Tschaikowsky wegweisend für die Sinfonik von Mahler und Schostakowitsch gewirkt. Nur bekommt er seinerseits die teilweise drastische Fallhöhe hier noch nicht völlig in den Griff.

Dieses Durch- und Nebeneinander ist dennoch faszinierend, zumal Järvi nichts beschönigt oder angleicht, vielmehr das Disparate ausstellt. Etwa im grosssprecherischen Finalsatz, in dem eine ausgelassene Ohrwurm-Melodie – das seinerzeit beliebte Tanzlied «Der Kranich» – unversehens mit dunklen Schicksalsrufen der Bläser grundiert wird, die bereits der «Pathétique» entstammen könnten.


Wie die Einbindung von Volks- oder «Bauernmusik»-Imitationen in die Sphäre der Kunstmusik organischer gelingt, hätte Tschaikowsky fünfzig Jahre später an Béla Bartóks «Tanz-Suite» von 1923 studieren können. Järvi und seine Musiker lassen sie in einer wunderbar transparenten und rhythmisch pulsierenden Lesart gleichsam als Fortschreibung der Zweiten erklingen. Die eigentliche Antwort auf Tschaikowskys frühes Werk geben sie hingegen mit dessen eigener 5. Sinfonie nach der Pause.

Stimmig entwickelt

Der Zuwachs an überlegenem Handwerk, ein Markenzeichen des reifen Tschaikowsky, ist frappierend und mag dann doch, im Rückblick, die Vernachlässigung der Zweiten ein wenig erklären. Aus dem zerfasernden Melodien-Potpourri wird in der Fünften – namentlich in einer so feurig-stringenten Deutung wie derjenigen Järvis – plötzlich ein Ganzes, nicht minder farbenreich und obendrein zusammengehalten durch ein alle Sätze durchziehendes Leitthema, das Järvi in immer neuen klanglichen Schattierungen auftreten lässt. Järvi bindet zudem die Mittelsätze fast attacca aneinander (wie zuvor schon in seiner Zürcher Deutung der «Pathétique»), quasi als lichteres, exterritoriales Intermezzo, bevor das im Kopfsatz entfachte und zunächst im Ausweglosen gestrandete Drama im Finale sein ungebrochen affirmatives Ende findet.

Adorno wird für die hier versuchte Übersteigerung des beethovenschen «Durch die Nacht zum Licht»-Prinzips später das böse Wort «Über-Dur» prägen. Bei Järvi hingegen gibt es nichts Hypertrophes, nichts Aufgesetztes; der Durchbruch zum triumphalen Schluss wirkt vollkommen stimmig aus dem Vorangegangenen entwickelt. Nur hat die Dynamik bis zu diesem Punkt eine solche Lautstärke erreicht, dass die Tonhalle Maag akustisch – nicht zum ersten Mal bei Järvi – an Grenzen stösst. Nach dem letzten Schicksalspochen à la Beethoven reisst es das Publikum gleichwohl von den Sitzen.


Das Konzert wird heute Abend und am Freitag in der Tonhalle Maag wiederholt. Beide Konzerte sind ausverkauft.
Mit Tschaikowskys 5. Sinfonie und Bartóks «Tanz-Suite» sowie dem Klarinettenkonzert von Aaron Copland gehen Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester ausserdem vom 15. bis 19. Januar auf Tournee nach Innsbruck, Wien, Budapest und Dortmund.

https://www.nzz.ch/feuilleton/tschaikowsky-zyklus-in-der-tonhalle-paavo-jaervi-und-der-wildfang-ld.1532922

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