Rondo Magazine review of Pärnu Music Festival 2020
Rondo Magazin
Regine Müller
25.07.2020
Wo die Masken fallen
Es ist ein erlösender Moment, als sich in der Konzerthalle die Streicherklänge des Tallinn Chamber Orchestra bei Arvo Pärts „Cantus in Memory of Benjamin Britten“ soghaft verdichten, und nach Monaten der schmerzhaften Entwöhnung endlich wieder ein satter Orchestersound zu hören ist. Vorher schon will man seinen Augen kaum trauen: Die Musiker des Orchesters sitzen ohne gewohnte Corona-Distanz auf der Bühne, im gut besetzten Saal – angeblich nur zu 50 Prozent belegt, aber dem auf Corona geeichten Distanz-Blick scheint es mehr zu sein – trägt niemand eine Maske. Die dauerhaft niedrigen Infektionszahlen in Estland ermöglichen dem baltischen Land bereits seit dem 1. Juni, dass nicht nur auf den Straßen, in den Restaurants und am Strand ein ziemlich normales Bild herrscht, sondern dass nun auch das prosperierende Musikfestival scheinbar so normal stattfindet, als sei Corona ein sehr ferner Albtraum.
Dirigent und Festivalchef Paavo Järvi entert dynamisch das Pult, Arvo Pärts „Cantus“ hat er bewusst an den Anfang gestellt, denn das Werk beginnt mystisch mit einem feinen Glockenschlag über wispernden Streichertremoli, die sich hymnenartig verdichten. In diesem denkwürdigen Moment scheint es, als würden die Glocken endlich eine neue, bessere Zeit einläuten.
Paavo Järvi ist gebürtiger Este und wird als Dirigent weltweit hoch gehandelt, er entstammt einer estnischen Musikerdynastie, sein Vater Neeme gründete vor 50 Jahren das Festival im Seebad Pärnu, damals hieß es noch Oistrach-Festival (weil Oistrach in Pärnu Stammgast war). Seit zehn Jahren steht Paavo Järvi nun dem Festival vor, er ist unter anderem Chef des Tonhalle Orchesters Zürich und der Bremer Kammerphilharmonie. Auch die Järvi-Familie verbrachte stets ihre Sommer in Pärnu, bevor sie 1980 in die USA emigrierte. Das Seebad blieb jedoch ein prägender Sehnsuchtsort der Järvis und so trifft sich der ganze Clan, zu dem noch eine unüberschaubar große Schar von MusikerInnen gehört, jeden Sommer wieder dort. Vater Neeme Järvi steckt ausgerechnet in diesem doppelten Jubiläums-Jahr in Florida fest, wird aber unter stürmischen Sympathie-Bekundungen im überwiegend estnischen Publikum beim Galakonzert am zweiten Festival-Tag per Video zugeschaltet und grüßt sichtlich bewegt und zugleich mit dem verschmitzten Schalk der Järvis nach Pärnu.
Paavo Järvi hatte lange geschwankt, ob er das Festival nicht absagen solle: „Es ging Schritt für Schritt. Wir hörten uns um in der Welt, alle sagten ab und die Dinge verschlimmerten sich. Aber wir hatten trotzdem tägliche Meetings: Was sagt der Gesundheitsminister, wie sind die Prognosen der Regierung?“
Die Dinge entwickelten sich dann überraschend günstig in Estland, zur Festivalzeit soll es nur sechs Infizierte in ganz Estland geben. Die Konzerte und der sonstige Festivalbetrieb mit dem Dirigierkurs und Klassen für Instrumentalisten und Kammermusik laufen scheinbar normal. Tatsächlich aber ist es ein tägliches Ringen mit ständig wechselnden Situationen, erzählt Järvi: „Wir sind ein internationales Festival, die Musiker kommen von überall. Plötzlich hatten wir keine Harfe! Eine unserer liebsten Freundinnen ist Jana Bushkova, die große Harfenistin vom Tschech Philharmonic Orchestra, sie ist immer hier. Aber nun konnte sie nicht kommen, denn ganz kurz vor dem Festival gingen die Zahlen in Tschechien hoch. Dann gingen sie auch Luxemburg, das nie ein Problem war, plötzlich nach oben. Deshalb musste eine Solistin aus Luxemburg nun erst zwei Wochen in Deutschland sein, um herkommen zu dürfen. Denn Deutschland ist erlaubt, Luxemburg nicht. Also, es ist noch immer ein tägliches Glücksspiel.“
Der besonderer Geist von Pärnu
Im Estonian Festival Orchestra sitzen Spitzenmusiker aus der ganzen Welt, die Paavo Järvi selbst rekrutiert. Diesmal eben nur aus „sicheren“ Ländern. Es sind aber auch viele junge Musiker vor Ort, die ein weiteres Orchester bilden, das ständig den Absolventen der Dirigier-Akademie zur Verfügung steht. Darüber hinaus belegen sie Instrumental- oder Kammermusikkurse, alle besuchen nach Möglichkeit auch alle Konzerte, sofern sie nicht selbst auf der Bühne stehen. So geht in Pärnu stets alles ineinander über: Unterrichten, Musizieren, Zuhören, Kurse besuchen, Konzerte und Coachings. Paavo Järvi und sein jüngerer Bruder Kristjan leiten den Dirigierkurs, bei den abendlichen Konzerten steht vor allem Paavo am Pult. Ein ziemlich strammes Pensum, wobei Paavo die permanente Arbeit an der Musik als „den einfachen Teil“ dieser Zeit bezeichnet. „Im Alltag mit einem normalen Orchester geht man nach der Probe nach Hause. Hier aber gehen alle ins Café ‚Passion‘ bis drei Uhr morgens, diskutieren und knüpfen Kontakte. Nur junge Leute machen sowas eigentlich. Das hier ist eine Chance, wieder jung zu werden. Für eine Woche …“ sagt er mit der Järvi’schen Selbstironie.
Das Festival atmet selbst im Pandemie-Jahr einen besonderen Geist der Kommunikation und einer gewissen Ausgelassenheit. Vielleicht liegt es neben den erlaubten Lockerungen auch an der besonderen Aura der Enklave, für die Pärnu schon immer stand? Pärnu war bereits in Zeiten der Sowjetunion ein Ort, an dem sich systemkritische Musiker und Intellektuelle trafen. In der Sowjetunion gab es zwei beliebte Möglichkeiten, Sommerferien zu machen. Die meisten zog es ans Schwarze Meer, so Järvi: „Die anderen Leute, die diese Art von Hitze nicht mochten und lieber in einer Umgebung sein wollten, die kulturell näher an Europa ist, kamen nach Estland. Estland hat nie den Kontakt zur Alten Welt verloren und zur Welt außerhalb der Sowjetunion. Es war der westlichste Ort, zu dem man gehen konnte innerhalb der Sowjetunion. Es war immer Musik hier. Und das Gefühl, dass man hier ein bisschen abgeschirmt war vor den Scheinwerfern des KGB.“
Es sind aber nicht nur die Freiheit von Masken, die gelockerten Abstandsregeln und das sensationelle Wetter, was Pärnu in diesem Jahr unvergesslich macht. Es sind vor allem die beglückenden Momente im Konzertsaal, in denen Paavo Järvi Beethoven dirigiert, wie etwa am Eröffnungsabend die 1. Sinfonie und das 1. Klavierkonzert mit dem fabelhaft plastisch spielenden Kalle Randalu. Järvi hat mit der Bremer Kammerphilharmonie jahrelang an einem Beethoven-Zyklus gefeilt. Das Ergebnis dieser Erkundung zeigt sich nun in einer atemberaubenden Souveränität, die in ganz großen Zusammenhängen denkt und sich nie verliert in kleinteiligen Maßnahmen, Effekten und aufgebauschten Manövern. Järvis minimalistischer und maximal effizienter Dirigerstil lässt den frühen Beethoven in transparentem, federnden Parlando erklingen, pointenreich, hellwach, inspiriert und geistvoll. Järvi versteht es, Beethoven gestisch zu schärfen und zu verdichten, ohne ihn immer nur auf Krawall zu bürsten, wie es derzeit schwer in Mode ist. „Alles ist Kammermusik“ untertreibt er lapidar seine Meisterschaft. Auch Mendelssohns Erste rehabilitiert Järvi als Meisterwerk, nimmt sie rauschhaft emphatisch und licht. Es fällt schwer, aus Pärnu wieder abzureisen. Bleibt zu hoffen, dass Pärnu der glückverheißende Vorbote ist und bald wieder überall Musik und Publikum in den so vermissten Kontakt kommen.
Regine Müller
25.07.2020
Wo die Masken fallen
Es ist ein erlösender Moment, als sich in der Konzerthalle die Streicherklänge des Tallinn Chamber Orchestra bei Arvo Pärts „Cantus in Memory of Benjamin Britten“ soghaft verdichten, und nach Monaten der schmerzhaften Entwöhnung endlich wieder ein satter Orchestersound zu hören ist. Vorher schon will man seinen Augen kaum trauen: Die Musiker des Orchesters sitzen ohne gewohnte Corona-Distanz auf der Bühne, im gut besetzten Saal – angeblich nur zu 50 Prozent belegt, aber dem auf Corona geeichten Distanz-Blick scheint es mehr zu sein – trägt niemand eine Maske. Die dauerhaft niedrigen Infektionszahlen in Estland ermöglichen dem baltischen Land bereits seit dem 1. Juni, dass nicht nur auf den Straßen, in den Restaurants und am Strand ein ziemlich normales Bild herrscht, sondern dass nun auch das prosperierende Musikfestival scheinbar so normal stattfindet, als sei Corona ein sehr ferner Albtraum.
Dirigent und Festivalchef Paavo Järvi entert dynamisch das Pult, Arvo Pärts „Cantus“ hat er bewusst an den Anfang gestellt, denn das Werk beginnt mystisch mit einem feinen Glockenschlag über wispernden Streichertremoli, die sich hymnenartig verdichten. In diesem denkwürdigen Moment scheint es, als würden die Glocken endlich eine neue, bessere Zeit einläuten.
Paavo Järvi ist gebürtiger Este und wird als Dirigent weltweit hoch gehandelt, er entstammt einer estnischen Musikerdynastie, sein Vater Neeme gründete vor 50 Jahren das Festival im Seebad Pärnu, damals hieß es noch Oistrach-Festival (weil Oistrach in Pärnu Stammgast war). Seit zehn Jahren steht Paavo Järvi nun dem Festival vor, er ist unter anderem Chef des Tonhalle Orchesters Zürich und der Bremer Kammerphilharmonie. Auch die Järvi-Familie verbrachte stets ihre Sommer in Pärnu, bevor sie 1980 in die USA emigrierte. Das Seebad blieb jedoch ein prägender Sehnsuchtsort der Järvis und so trifft sich der ganze Clan, zu dem noch eine unüberschaubar große Schar von MusikerInnen gehört, jeden Sommer wieder dort. Vater Neeme Järvi steckt ausgerechnet in diesem doppelten Jubiläums-Jahr in Florida fest, wird aber unter stürmischen Sympathie-Bekundungen im überwiegend estnischen Publikum beim Galakonzert am zweiten Festival-Tag per Video zugeschaltet und grüßt sichtlich bewegt und zugleich mit dem verschmitzten Schalk der Järvis nach Pärnu.
Paavo Järvi hatte lange geschwankt, ob er das Festival nicht absagen solle: „Es ging Schritt für Schritt. Wir hörten uns um in der Welt, alle sagten ab und die Dinge verschlimmerten sich. Aber wir hatten trotzdem tägliche Meetings: Was sagt der Gesundheitsminister, wie sind die Prognosen der Regierung?“
Die Dinge entwickelten sich dann überraschend günstig in Estland, zur Festivalzeit soll es nur sechs Infizierte in ganz Estland geben. Die Konzerte und der sonstige Festivalbetrieb mit dem Dirigierkurs und Klassen für Instrumentalisten und Kammermusik laufen scheinbar normal. Tatsächlich aber ist es ein tägliches Ringen mit ständig wechselnden Situationen, erzählt Järvi: „Wir sind ein internationales Festival, die Musiker kommen von überall. Plötzlich hatten wir keine Harfe! Eine unserer liebsten Freundinnen ist Jana Bushkova, die große Harfenistin vom Tschech Philharmonic Orchestra, sie ist immer hier. Aber nun konnte sie nicht kommen, denn ganz kurz vor dem Festival gingen die Zahlen in Tschechien hoch. Dann gingen sie auch Luxemburg, das nie ein Problem war, plötzlich nach oben. Deshalb musste eine Solistin aus Luxemburg nun erst zwei Wochen in Deutschland sein, um herkommen zu dürfen. Denn Deutschland ist erlaubt, Luxemburg nicht. Also, es ist noch immer ein tägliches Glücksspiel.“
Der besonderer Geist von Pärnu
Im Estonian Festival Orchestra sitzen Spitzenmusiker aus der ganzen Welt, die Paavo Järvi selbst rekrutiert. Diesmal eben nur aus „sicheren“ Ländern. Es sind aber auch viele junge Musiker vor Ort, die ein weiteres Orchester bilden, das ständig den Absolventen der Dirigier-Akademie zur Verfügung steht. Darüber hinaus belegen sie Instrumental- oder Kammermusikkurse, alle besuchen nach Möglichkeit auch alle Konzerte, sofern sie nicht selbst auf der Bühne stehen. So geht in Pärnu stets alles ineinander über: Unterrichten, Musizieren, Zuhören, Kurse besuchen, Konzerte und Coachings. Paavo Järvi und sein jüngerer Bruder Kristjan leiten den Dirigierkurs, bei den abendlichen Konzerten steht vor allem Paavo am Pult. Ein ziemlich strammes Pensum, wobei Paavo die permanente Arbeit an der Musik als „den einfachen Teil“ dieser Zeit bezeichnet. „Im Alltag mit einem normalen Orchester geht man nach der Probe nach Hause. Hier aber gehen alle ins Café ‚Passion‘ bis drei Uhr morgens, diskutieren und knüpfen Kontakte. Nur junge Leute machen sowas eigentlich. Das hier ist eine Chance, wieder jung zu werden. Für eine Woche …“ sagt er mit der Järvi’schen Selbstironie.
Das Festival atmet selbst im Pandemie-Jahr einen besonderen Geist der Kommunikation und einer gewissen Ausgelassenheit. Vielleicht liegt es neben den erlaubten Lockerungen auch an der besonderen Aura der Enklave, für die Pärnu schon immer stand? Pärnu war bereits in Zeiten der Sowjetunion ein Ort, an dem sich systemkritische Musiker und Intellektuelle trafen. In der Sowjetunion gab es zwei beliebte Möglichkeiten, Sommerferien zu machen. Die meisten zog es ans Schwarze Meer, so Järvi: „Die anderen Leute, die diese Art von Hitze nicht mochten und lieber in einer Umgebung sein wollten, die kulturell näher an Europa ist, kamen nach Estland. Estland hat nie den Kontakt zur Alten Welt verloren und zur Welt außerhalb der Sowjetunion. Es war der westlichste Ort, zu dem man gehen konnte innerhalb der Sowjetunion. Es war immer Musik hier. Und das Gefühl, dass man hier ein bisschen abgeschirmt war vor den Scheinwerfern des KGB.“
Es sind aber nicht nur die Freiheit von Masken, die gelockerten Abstandsregeln und das sensationelle Wetter, was Pärnu in diesem Jahr unvergesslich macht. Es sind vor allem die beglückenden Momente im Konzertsaal, in denen Paavo Järvi Beethoven dirigiert, wie etwa am Eröffnungsabend die 1. Sinfonie und das 1. Klavierkonzert mit dem fabelhaft plastisch spielenden Kalle Randalu. Järvi hat mit der Bremer Kammerphilharmonie jahrelang an einem Beethoven-Zyklus gefeilt. Das Ergebnis dieser Erkundung zeigt sich nun in einer atemberaubenden Souveränität, die in ganz großen Zusammenhängen denkt und sich nie verliert in kleinteiligen Maßnahmen, Effekten und aufgebauschten Manövern. Järvis minimalistischer und maximal effizienter Dirigerstil lässt den frühen Beethoven in transparentem, federnden Parlando erklingen, pointenreich, hellwach, inspiriert und geistvoll. Järvi versteht es, Beethoven gestisch zu schärfen und zu verdichten, ohne ihn immer nur auf Krawall zu bürsten, wie es derzeit schwer in Mode ist. „Alles ist Kammermusik“ untertreibt er lapidar seine Meisterschaft. Auch Mendelssohns Erste rehabilitiert Järvi als Meisterwerk, nimmt sie rauschhaft emphatisch und licht. Es fällt schwer, aus Pärnu wieder abzureisen. Bleibt zu hoffen, dass Pärnu der glückverheißende Vorbote ist und bald wieder überall Musik und Publikum in den so vermissten Kontakt kommen.
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