Rheingau Musikfestival: Auftakt mit Mahlers 5. Sinfonie

Alsfelder-Allgemeine.de
Manfred Merz
26.06.2011

Stehende Ovationen für einen großen Perfektionisten: Paavo Järvi und das HR-Sinfonieorchester begeistern zum Auftakt des Rheingau Musikfestivals mit Mahlers 5. Sinfonie. Elina Garanca singt im Vorprogramm.


Der Star des Abends steht rechts hinter Elena Garanca: Paavo Järvi setzt mit dem HR-Sinfonieorchester im Kloster Eberbach zu neuen Höhenflügen an. (Foto: Ansgar Klostermann)

Der eine arbeitet mit chirurgischer Präzision, der andere ist ein Fall für den Pathologen. Gemeinsam sind sie ein nicht zu schlagendes Team akustischer Intensivmedizin. Paavo Järvi und Gustav Mahler haben sich gesucht und gefunden, oder besser: Der Dirigent, Jahrgang 1962, hat den Komponisten, dessen 100. Todestag heuer begangen wird, für sich entdeckt und arbeitet seit Langem an einem Zyklus der Mahler-Sinfonien, den er jedes Jahr um ein weiteres Werk im Rahmen des Rheingau Musikfestivals erweitert und der ihn am Ende in die Fußstapfen der berühmtesten seiner Kollegen treten lassen wird.
Järvi setzte am Samstagabend den Zyklus in der Basilika von Kloster Eberbach fort und interpretierte gemeinsam mit seinem HR-Sinfonieorchester zum Auftakt des Rheingau Musikfestivals die 5. Sinfonie des Spätromantikers mit einer Urgewalt bei gleichzeitigem Farbreichtum, die ihresgleichen sucht. Am Ende gab es für den Esten und seinen außerordentlichen Klangkörper stehende Ovationen, Bravorufe und nicht enden wollenden Beifall.

Bei so viel Euphorie wurde die erste Konzerthälfte, die gerade einmal 20 Minuten währte, zum Vorprogramm degradiert. Elina Garanca sang Alban Bergs »Sieben frühe Lieder für Singstimme und Orchester«. Der lettische Mezzosopran-Star kann seine optischen Vorzüge jederzeit in beeindruckende Töne verwandeln. Garancas Stimmvolumen ist enorm, die Intonation punktgenau, der Gestaltungswille gewaltig. Dennoch erscheinen in den Bergschen Liedern manche ihrer Ausformulierungen trotz des zurückhaltend agierenden Orchesters etwas kurz, bleibt die Textverständlichkeit mäßig - die eigenwillige Akustik der Basilika, die der eines Tunnels gleicht, trägt ihren Teil dazu bei. Sie schmeichelt dem Klang der menschlichen Stimme nicht. Umso mehr überrascht es, wie elegant Järvi den impulsiven Orchestersound ausgewogen und transparent durchs hochwandige Mauerwerk führt. Selbst Tutti-Passagen im Fortissimo, die mit ihrer Klanggewalt einer Körperverletzung nahekommen, sprengen die beengte Situation des Hauses nicht, obgleich Järvi keineswegs verhalten dirigiert. Der Stabführer motiviert mit weiten Gesten die Musiker zu einer spannungsreichen Leistung. Das Orchester arbeitet die Schattierungen der umfangreichen Partitur, deren fünf Sätze in vier verschiedenen Tonarten notiert sind, mit Charme und Chuzpe heraus. Die Bläser spielen überaus rein, höchstes Lob ans stimmsichere Blech mit hervorragendem Horn-Solo im Scherzo.

Im zweiten Teil der ersten Abteilung (Mahler benennt die Sätze seiner Sinfonien eigenwillig) wird der Rezipient mit viriler Vehemenz in den Sitz gepresst, während er in der dritten Abteilung, im überirdischen Adagietto (dem eigentlichen vierten Satz, der Viscontis »Tod in Venedig« kongenial untermalt), dank feinstem Streichersound und Harfenperlen ohne einen Ton der Bläser auf Wolke sieben schwebt. Attacca geht's ins Finale, das in tobendem Dur bis zum aufbrausenden Schluss an den Nerven zerrt.

Järvi erweist sich neuerlich als Perfektionist, die HR-Sinfoniker dürfen sich vitale Künstler nennen. Mit dem Esten am Pult lässt sich das Orchester zu neuen Höhenflügen stimulieren. In der Basilika des früheren Zisterzienserklosters wird der irrwitzige Mahlersche Duktus mit seiner kolossalen Struktur, die immer Neues bietet und im Uferlosen zu kulminieren scheint, ein fassbares, konkretes Stück Musik, das jeden unweigerlich in den tiefen Strudel des Kompositionskosmos hineinzieht.

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