Von der Doppelbödigkeit allen Seins

Frankfurter Neue Presse
Von Michael Dellith
27. Juni 2011

Das HR-Sinfonieorchester eröffnete das Rheingau-Musik-Festival in Kloster Eberbach mit Mahlers 5. Sinfonie und Mezzosopranistin Elina Garanca.

Es ist die vielleicht typischste aller Mahler-Sinfonien. An seiner Fünften führte der geniale Tonschöpfer seinen Kompositionsstil exemplarisch vor: In einem Augenblick bricht die Musik in überschwänglichen Jubel aus, um im nächsten Moment in sich zusammenzusacken. Streichermelodien schwelgen in Walzerseligkeit und werden sogleich durch scharfen Trompetenklang abrupt beendet. Und wenn sich der Hörer endlich auf sicherem Grund fühlt, wird ihm sofort wieder der Boden unter den Füßen weggezogen. Es ist das Schwankende, Labile, ob im Trauermarsch des ersten Satzes oder im Dreivierteltakt-Rhythmus des Scherzo: Wie in kaum einem anderen Werk gelang es Mahler in seiner fünften Sinfonie, die Doppelbödigkeit allen menschlichen Seins auf faszinierende Weise zum Ausdruck zu bringen. Und es gibt zurzeit wohl kaum ein Ensemble in Deutschland, das diese Doppelbödigkeit besser musikalisch umsetzen kann als das Frankfurter HR-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi.

Unter Järvis konzis-konzentrierter Leitung reagierten die HR-Musiker beim Eröffnungskonzert in Kloster Eberbach mit einer vorbildlichen Flexibilität und Spontaneität. Der Reiz dieser ständig changierenden Klangwelten entfaltete sich auch ohne analytische Strenge – und Järvi ließ sogar das Überbordende, aus der Form Brechende mit Genuss zu. Andererseits vermied er jegliche, alle Struktur versiegelnde Hochglanzpolitur. So erklangen die Streicher im berühmten Adagietto, das Luchino Visconti in seiner kongenialen Verfilmung von Thomas Manns "Tod in Venedig" zur Liebessehnsuchts-Melodie überhöhte, nicht himmlisch losgelöst, sondern ganz erd- und naturverbunden. Bei Paavo Järvi ertastete sich das Adagietto vorsichtig seinen Klangraum. Und mit diesem einzigartigen Satz war auch der Bogen zum Anfang des Konzertes geschlagen, an dem die lettische Mezzosopranistin Elina Garanca mit Alban Bergs "Sieben frühen Liedern" vokale Klangkathedralen in hoher Vollendung und ergreifender Schönheit errichtet hatte: mit ihrer warmen und geschmeidigen Stimme, üppig aufblühend, von zartester Innigkeit bis hin zum Ausbruch größter Expressivität.

Doch zurück zu Mahler, dessen Rondo-Finale sich dank der brillanten Bläser-Fraktion des HR-Orchesters bis in taumelnde Euphorie steigerte, so atemberaubend, dass sich die Spannung am Ende in einem "Bravo"-Sturm des Publikums löste. "Standing Ovations" für einen fulminanten Festival-Auftakt.

http://www.fnp.de/fnp/nachrichten/kultur/von-der-doppelboedigkeit-allen-seins_rmn01.c.9014046.de.html

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