Wiener Musikverein: Zwei Jahre lang 200 Jahre alt

derStandard.at
09.oktober 2011

Zweimal Bruckners Achte zu Anfang der Jubiläumssaison

Wien Es muss ein bemerkenswerter Moment gewesen sein, an jenem Dezember-Sonntagmittag anno 1892 im Musikverein: oben in der Direktionsloge Johannes Brahms, der mit ansehen musste, wie man seinem ärgsten Konkurrenten unter tosendem Jubel Lorbeerkränze überreichte für eine seiner "symphonischen Riesenschlangen" (Brahms). Diesen Anblick hatte sich Eduard Hanslick, Anton Bruckners ärgster Widersacher auf publizistischem Gebiet, schon gar nicht mehr angetan: Er hatte nach der Uraufführung der Achten eilig den Saal verlassen, um das "unnatürliche Beifallslärmen" nicht länger ertragen zu müssen.


An solchen Geschichten, die Musikgeschichte wurden, ist die Vergangenheit der Gesellschaft der Musikfreunde reich – eine Vergangenheit, die fast 200 Jahre zurückreicht in eine Zeit, als das Bürgertum die Hocharistokratie als Trägerin des professionellen Musikwesens abzulösen begann. Zwei Konzerte in der Winterreitschule im Spätherbst 1812 standen am Beginn der Gesellschaft, die "zur Emporbringung der Musik in allen ihren Zweigen" unter anderem ein Konservatorium und eine Bibliothek gründen und den Musikverein bauen lassen sollte. In der gegenwärtigen Zeit findet sich der honorige Club als prestigeträchtiger Konzertveranstalter wieder, der sich auch intensiv um den Nachwuchs kümmert.

Berauscht von derartig viel großartiger Geschichte feiert man im Musikverein den 200. Geburtstag der Musikfreunde-Gesellschaft gleich zwei Jahre lang; zu Beginn der ersten Jubiläumssaison war Bruckners eingangs erwähnte Achte gleich zweimal zu erleben. Paavo Järvi setzte jüngst mit dem hervorragend flexibel, präzise und engagiert musizierenden Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks auf kraftvollen Elan (das flotte Allegro moderato des Scherzos), satte Zeitlupen-Innigkeit (Adagio) und festen Klang-Bombast (Finale).

Christian Thielemann hatte im September mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden eine Interpretation vorgestellt, die allen, die sie miterleben durften, als Eichmaß für künftige Begegnungen mit diesem Werk dienen wird. Geformt bis ins kleinste Detail präsentierte Thielemann das Werk weniger als gewaltige Ton-Architektur denn als episches Seelendrama mit kluger, prägnanter und ungemein fesselnder Charakterzeichnung.

Ob die Achte in dieser Darstellung Eduard Hanslick eventuell doch gefallen hätte? Der Gesellschaft der Musikfreunde ist man für dieses Konzert sowie für zahlreiche andere Großtaten der letzten 200 Jahre jedenfalls zu Dank verpflichtet. Ad multos annos. (Stefan Ender/ DER STANDARD, Printausgabe, 10.10.2011; Langfassung)

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