Das ist wie eine seelische Schusswunde
faz.net
Jan Brachmann
10.04.2018
Herr Järvi, Sie haben etwas Besonderes vor: Am 10. April, genau hundertfünfzig Jahre nach der Uraufführung, werden Sie mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, Valentina Farcas und Matthias Goerne sowie dem Staatschor Latvija aus Riga „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms aufführen, exakt am Ort der Uraufführung, im Bremer Dom. Nun war das Werk damals noch sechssätzig, der siebente Satz kam erst ein Jahr später dazu. Werden Sie sich an diese Originalversion halten?
Nein, wir werden die heute übliche Standardversion mit sieben Sätzen spielen. Das Programm des Uraufführungskonzerts war ja, mit Robert Schumanns „Abendlied“ und Georg Friedrich Händels Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“ als Ergänzungen zu Brahms, ohnehin sehr speziell.
Weil die Uraufführung an einem Karfreitag stattfand und der örtliche Pfarrer den ausdrücklichen Bezug auf Tod und Auferstehung Jesus Christi vermisste, wurde Händel eingeschoben.
Wir hatten beim Orchester viele Diskussionen darüber, ob wir dieses Konzert in seinem damaligen Ablauf tatsächlich einmal rekonstruieren sollten. Doch wir haben entschieden, uns auf das Requiem zu beschränken. Eine identische Rekonstruktion des damaligen Programms ist nicht das, was uns interessiert. Uns ging es um die Symbolik von Tag und Ort und um die gleiche Stärke der Besetzung. Wir haben noch keine Ahnung, wie die Akustik funktionieren wird.
Haben Sie Zahlen zur Besetzung?
Ja, zumindest für das Orchester: ungefähr vierzig Spieler. Kaum mehr, also sehr viel weniger als heute üblich.
„Ein deutsches Requiem“ gehört musikgeschichtlich zu den letzten geistlichen Werken, die tatsächlich Wurzeln geschlagen haben in unserem Musikleben. Fast jede größere Kantorei studiert es ein. Das Werk bedeutet den Deutschen viel. Was können sie von Ihnen Neues lernen?
Darüber kann ich schwer reden. Es ist ja jedes Mal eine neue Erfahrung, wenn Sie solch ein Werk machen: abhängig vom Chor, vom Orchester, den Solisten, auch der Akustik. Ich wuchs auf mit der Aufnahme des Requiems von Herbert von Karajan. Mein Vater ...
Neeme Järvi, selbst Dirigent ...
… war ein großer Karajan-Fan. Ich habe das oft gehört; dann hat sich aber mein Verhältnis zu dem Werk durch eigene Arbeit verändert. Ich dirigierte im Wiener Musikverein „Ein deutsches Requiem“ mit dem Orchestre de Paris und dem Wiener Sing-Verein. Das war eine ganz seltsame Erfahrung: ein französisches Orchester mit deutscher Musik in Österreich. Das Orchester spielte diese Musik mit unglaublicher Einsicht, mit Liebe und Respekt, mit Bewunderung. Und da merkte ich, dass es im Verständnis keine nationalen Beschränkungen gibt.
Kennen Sie die Aufnahme mit dem Orchestre des Champs-Elysées unter der Leitung von Philippe Herreweghe?
Noch nicht. Ist die interessant?
Ja, wegen der flüssigen Tempi, die gut zu singen sind, und wegen der genauen Artikulation, die besonders dem Schlusssatz – „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an“ – etwas Leichtes gibt, worin sich die Verheißung des ersten Satzes – „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“ – erfüllt. Die Musik fliegt wirklich in die Höhe, von der Last des Leids befreit. Außerdem hört man bei Herreweghe sehr gut die Muster der Spätrenaissance und des Frühbarocks, denen Brahms folgt. Er hat sich ja früh mit der venezianischen Musik um 1600, mit Giovanni Gabrieli beschäftigt.
Sie haben völlig recht. Ich bemerke das auch in Brahms’ Symphonien, die voll sind von Bezügen auf die ältere Musik. Ich entdeckte das selbst erst später. Denn meine Jugend war beherrscht vom durchgehaltenen, breiten, dramatischen Klang der Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan. Ich habe nie über die Bezüge zu Alter Musik, zu Kirchenmusik, zu Gabrieli, Monteverdi, Schütz, bei Brahms nachgedacht, bevor ich die Kammerphilharmonie traf. Als ich hörte, wie sie spielen, bemerkte ich diese Bezüge – und sie sind wirklich umwerfend – überall, in seiner gesamten Musik. Das liegt an deren Tongebung, deren Artikulation: Sobald sich da nur eine Andeutung auftut, stellt dieses Orchester gleich einen klaren Bezug her.
Sie bringen jetzt mit der Kammerphilharmonie alle vier Brahms-Symphonien auf CD heraus, und das wirkt ziemlich planvoll. Erst haben Sie alle Symphonien von Ludwig van Beethoven aufgenommen, dann alle von Robert Schumann, nun Brahms. Liegt darin eine Logik?
Ja, irgendwie fühle ich das, obwohl ich es schwer in Worte fassen kann. Zunächst mal historisch: Brahms bewunderte Schumann; beide waren befreundet. Schumann hat ihn in der Beschäftigung mit älterer Musik bestärkt. Schon Schumann studierte ältere Chor- und Kirchenmusik. Brahms konnte Schumanns Bibliothek nutzen. Aber es hat auch eine praktische Logik für uns als Interpreten: Nach der Beschäftigung mit Beethoven hatten wir einen solchen rhythmischen drive entwickelt, dass wir alle wussten, wie man tanzt. Aber mir war es wichtig, dass wir auch wissen, wie man singt. Und dazu war Schumann der richtige Lehrer für uns. Erst, wenn Sie tanzen und singen können, sind Sie reif für Brahms. Sie müssen beides gleichermaßen gut können. Beethoven lässt Sie zielstrebig und entschieden werden. Von Schumann lernen Sie, dass die gelegentliche Nachgiebigkeit, das Schlingern, das Sichverlieren an eine Melodie auch zur Musik gehören. Sie müssen aus Ihrer Schale herauskommen. Für Brahms brauchen Sie beides.
Muss man bei Brahms auch hinter die Fassade seiner wahnsinnig guten Absicherung des musikalischen Handwerks schauen?
Ja, das ist das Schwerste. Viele Musiker werden Ihnen sagen: „Schauen Sie sich diese unglaubliche Architektur an! Wie er das zusammengefügt hat! Diese vielen Ableitungen und Fortspinnungen!“ Ja, klar, verstanden. Aber Architektur allein ist nicht genug. Sie ist großartig, doch es muss da weitere Schichten geben. Wenn wir nur über die Architektur in der Musik von Johann Sebastian Bach reden, würden wir sehr viel vermissen. Natürlich ist das staunenswert gefügt, aber es dringt Ihnen auch mitten in die Seele.
Seelenlos ist Brahms wahrlich nicht.
Eben. Und er versteckt so viel. Wir wären vielleicht glücklich zu wissen, was alles. Vielleicht gibt es den einen oder anderen Schlüssel in Berichten von Zeitgenossen. Aber meiner Meinung nach kommt es gar nicht so genau auf Details und Fakten an. Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal Leonard Bernstein mit Brahms gehört habe. Es war zuerst schrecklich, völlig unmöglich nach meinen Erfahrungen mit Karajan. Dem waren Striche, Details der Bogenführung geradezu egal, aber dann tat er etwas auf; er fragte nach dem, was hinter dieser perfekten Schönheit liegen könnte. Er war die erste Persönlichkeit, die mir Mut machte: „Lass dich nicht einschüchtern! Mach dich ruhig zum Narren. Das ist schon okay manchmal. Du lernst was dabei“.
Was haben Sie inzwischen Neues über Brahms gelernt?
Viel über die größere Agilität kleiner Orchesterbesetzungen. Ältere Brahms-Aufnahmen sind immer Monumente. Dabei schreibt er auch in seinen Symphonien eigentlich Kammermusik. Mittelstimmen bleiben hörbar, wenn die ursprüngliche Balance stimmt. Aber dann taucht eine andere Gefahr auf: Wenn Sie immer filigraner spielen, alle Details ausgestalten, verlieren Sie leicht den Blick auf das Ganze, für die Kraft bei Brahms, seinen echten Symphonismus, das Panorama.
Die Interpretation wird dann zu mikroskopisch.
Ja, genau! Und dann müssen Sie überlegen: Wie kriegen Sie beides zusammen? Wie vermeiden Sie es, eins von beidem zu opfern? Und es darf nicht wie eine Doktorarbeit klingen; es muss eine lebendige Aufführung werden.
In Ihrer Aufnahme der zweiten Symphonie von Brahms, die schon – bei RCA/Sony – auf dem Markt ist, fällt die Sorgfalt der Artikulation auf. Ein Großteil der Spannung entsteht daraus, dass Holzbläser und Streicher – so wie bei Brahms notiert – gleichzeitig in unterschiedlichen Phrasenlängen spielen. Es gibt asynchrone Zäsuren zwischen ihnen.
Brahms notiert sparsam, aber genau. Er gibt Ihnen ziemlich entschiedene Hinweise, was zu tun ist. In der Artikulation genauso wie in der Orchestrierung. Es gibt bei ihm Pianissimo-Stellen, wo er Trompeten einsetzt. Diese Trompeten müssen leuchten. Wie ein Nimbus, wie ein Halo. Wissen Sie, woher das Leuchten kommt? In Orchestrationslehren wird Ihnen beigebracht, dass Trompeten unisono spielen sollen. Brahms aber lässt sie in Oktaven spielen – und zwar in einer Lage, wo das fast unmöglich ist. Da kann es leicht passieren, dass sie kieksen oder gurken. Aber wenn das nicht passiert, dann ist es umwerfend. Das geht Ihnen durch den ganzen Körper. Das ist wie eine seelische Schusswunde.
Manchmal gibt es formale Ambivalenzen bei Brahms, zum Beispiel in der zweiten Symphonie. Sie fängt direkt mit der Exposition des ersten Themas an, aber dieser Anfang lässt sich hören wie eine langsame Einleitung.
Ja, das ist brillant! Wir haben im Orchester lange darüber nachgedacht und sind dann darauf gekommen, dass diese Symphonie nicht anfangen darf, als würde sie anfangen, sondern als würde die Musik schon lange im Fluss sein, und wir blenden uns einfach an dieser Stelle ein.
Sie sind ziemlich flexibel mit dem Tempo. Sie spielen kaum im Einheitstempo vom ersten bis zum letzten Takt durch.
Brahms war als Dirigent eigener Werke – darüber gibt es Augenzeugenberichte – berühmt für seine starken Temposchwankungen. Er konnte das Metronom nicht leiden. Für ihn hatte Musik ihre jeweils eigene Zeit, ihr eigenes Leben. Tempo ist für ihn kein Zeitmaß, sondern eine Art Umwelt, in der etwas lebt. Aber dieses passende Grundtempo bei Brahms zu finden ist eine echte Crux. Darüber müssen Sie sich lange den Kopf zerbrechen.
Welche der Symphonien war die schwierigste für Sie? Ich vermute: die erste.
Wollte ich gerade sagen. Bei dem Stück stehen Sie vor dem fast unlösbaren Problem, dass Sie die epische Größe dieser Musik nicht unterschlagen dürfen, dass Sie nicht zu akademisch und analytisch werden und den organischen Fluss verlieren. Gleichzeitig muss es gut strukturiert klingen. Das ist ein hartes und erschöpfendes Stück. Und ähnlich geht es mir mit dem Finale der Vierten. Diese Symphonie endet einfach nicht. Dabei ist die Vierte von allen das logischste, am besten konstruierte Stück. Die Zweite ist die Zugänglichste von allen. Die Dritte hat viel mit einer klugen Ästhetik des Sentimentalen zu tun: ob man sich und dem Publikum gestattet, gefühlvoll zu werden. Jeder trägt eine gewisse Sentimentalität in sich. Und in der dritten Symphonie von Brahms gibt es etwas, das unter der Ebene des Selbstbewusstseins liegt und sehr berührend ist, eine eigene Form von Wirklichkeit, die Menschen gern hinter der Schönheit des Klangs verstecken. Aber hier geht es auch um Verletzlichkeit.
Brahms ist ohne Melancholie nicht zu denken
Melancholie! Das ist es genau, was ich meine. Auch ein wenig Nostalgie.
Das Hornsolo in der Coda des Kopfsatzes der Zweiten ist so ein Moment tiefer Melancholie.
Oh ja! Und zugleich so leidenschaftlich! Das ist dieses Gefühl: Es hätte etwas werden können, aber es wurde nichts. Es ist die Trauer über eine lebensentscheidende verpasste Chance. Genau danach suchen wir in unserer Interpretation. Es geht nicht nur um ein schön geblasenes Solo. Es muss einem das Herz brechen.
Man muss der Musik erlauben zu weinen.
Genau. Und dann kommen die Musiker alten Schlags immer mit dem Satz: „Brahms weint nicht, Brahms ist gewichtig und bedeutend“. Die sind alle mit diesen monumentalen Aufnahmen aufgewachsen. Und wir, auch ich, stehen immer noch unter diesem gewaltigen Einfluss. Das kann ich nicht ändern. Dabei ist es genau so, wie Sie sagen: Man muss der Musik erlauben zu weinen.
Wie hat sich Brahms in den vier Symphonien Ihrer Meinung nach entwickelt? Ist es menschlich ein Weg von der Hoffnung zur Verzweiflung?
Ich höre Wut, wachsende Wut und Frustration, vielleicht am Ende wirklich Verzweiflung, aber sehr gut versteckt hinter der Mauer einer immer brillanter werdenden Konstruktion.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/interview-mit-dem-dirigenten-paavo-jaervi-ueber-brahms-15532342.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0
Jan Brachmann
10.04.2018
Man muss die Musik von Brahms nicht nur singen und tanzen, sondern auch weinen lassen: Ein Gespräch mit Paavo Järvi, der „Ein deutsches Requiem“ hundertfünfzig Jahre nach der Uraufführung am selben Ort dirigieren wird.
Herr Järvi, Sie haben etwas Besonderes vor: Am 10. April, genau hundertfünfzig Jahre nach der Uraufführung, werden Sie mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, Valentina Farcas und Matthias Goerne sowie dem Staatschor Latvija aus Riga „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms aufführen, exakt am Ort der Uraufführung, im Bremer Dom. Nun war das Werk damals noch sechssätzig, der siebente Satz kam erst ein Jahr später dazu. Werden Sie sich an diese Originalversion halten?
Nein, wir werden die heute übliche Standardversion mit sieben Sätzen spielen. Das Programm des Uraufführungskonzerts war ja, mit Robert Schumanns „Abendlied“ und Georg Friedrich Händels Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“ als Ergänzungen zu Brahms, ohnehin sehr speziell.
Weil die Uraufführung an einem Karfreitag stattfand und der örtliche Pfarrer den ausdrücklichen Bezug auf Tod und Auferstehung Jesus Christi vermisste, wurde Händel eingeschoben.
Wir hatten beim Orchester viele Diskussionen darüber, ob wir dieses Konzert in seinem damaligen Ablauf tatsächlich einmal rekonstruieren sollten. Doch wir haben entschieden, uns auf das Requiem zu beschränken. Eine identische Rekonstruktion des damaligen Programms ist nicht das, was uns interessiert. Uns ging es um die Symbolik von Tag und Ort und um die gleiche Stärke der Besetzung. Wir haben noch keine Ahnung, wie die Akustik funktionieren wird.
Haben Sie Zahlen zur Besetzung?
Ja, zumindest für das Orchester: ungefähr vierzig Spieler. Kaum mehr, also sehr viel weniger als heute üblich.
„Ein deutsches Requiem“ gehört musikgeschichtlich zu den letzten geistlichen Werken, die tatsächlich Wurzeln geschlagen haben in unserem Musikleben. Fast jede größere Kantorei studiert es ein. Das Werk bedeutet den Deutschen viel. Was können sie von Ihnen Neues lernen?
Darüber kann ich schwer reden. Es ist ja jedes Mal eine neue Erfahrung, wenn Sie solch ein Werk machen: abhängig vom Chor, vom Orchester, den Solisten, auch der Akustik. Ich wuchs auf mit der Aufnahme des Requiems von Herbert von Karajan. Mein Vater ...
Neeme Järvi, selbst Dirigent ...
… war ein großer Karajan-Fan. Ich habe das oft gehört; dann hat sich aber mein Verhältnis zu dem Werk durch eigene Arbeit verändert. Ich dirigierte im Wiener Musikverein „Ein deutsches Requiem“ mit dem Orchestre de Paris und dem Wiener Sing-Verein. Das war eine ganz seltsame Erfahrung: ein französisches Orchester mit deutscher Musik in Österreich. Das Orchester spielte diese Musik mit unglaublicher Einsicht, mit Liebe und Respekt, mit Bewunderung. Und da merkte ich, dass es im Verständnis keine nationalen Beschränkungen gibt.
Kennen Sie die Aufnahme mit dem Orchestre des Champs-Elysées unter der Leitung von Philippe Herreweghe?
Noch nicht. Ist die interessant?
Ja, wegen der flüssigen Tempi, die gut zu singen sind, und wegen der genauen Artikulation, die besonders dem Schlusssatz – „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an“ – etwas Leichtes gibt, worin sich die Verheißung des ersten Satzes – „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“ – erfüllt. Die Musik fliegt wirklich in die Höhe, von der Last des Leids befreit. Außerdem hört man bei Herreweghe sehr gut die Muster der Spätrenaissance und des Frühbarocks, denen Brahms folgt. Er hat sich ja früh mit der venezianischen Musik um 1600, mit Giovanni Gabrieli beschäftigt.
Sie haben völlig recht. Ich bemerke das auch in Brahms’ Symphonien, die voll sind von Bezügen auf die ältere Musik. Ich entdeckte das selbst erst später. Denn meine Jugend war beherrscht vom durchgehaltenen, breiten, dramatischen Klang der Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan. Ich habe nie über die Bezüge zu Alter Musik, zu Kirchenmusik, zu Gabrieli, Monteverdi, Schütz, bei Brahms nachgedacht, bevor ich die Kammerphilharmonie traf. Als ich hörte, wie sie spielen, bemerkte ich diese Bezüge – und sie sind wirklich umwerfend – überall, in seiner gesamten Musik. Das liegt an deren Tongebung, deren Artikulation: Sobald sich da nur eine Andeutung auftut, stellt dieses Orchester gleich einen klaren Bezug her.
Sie bringen jetzt mit der Kammerphilharmonie alle vier Brahms-Symphonien auf CD heraus, und das wirkt ziemlich planvoll. Erst haben Sie alle Symphonien von Ludwig van Beethoven aufgenommen, dann alle von Robert Schumann, nun Brahms. Liegt darin eine Logik?
Ja, irgendwie fühle ich das, obwohl ich es schwer in Worte fassen kann. Zunächst mal historisch: Brahms bewunderte Schumann; beide waren befreundet. Schumann hat ihn in der Beschäftigung mit älterer Musik bestärkt. Schon Schumann studierte ältere Chor- und Kirchenmusik. Brahms konnte Schumanns Bibliothek nutzen. Aber es hat auch eine praktische Logik für uns als Interpreten: Nach der Beschäftigung mit Beethoven hatten wir einen solchen rhythmischen drive entwickelt, dass wir alle wussten, wie man tanzt. Aber mir war es wichtig, dass wir auch wissen, wie man singt. Und dazu war Schumann der richtige Lehrer für uns. Erst, wenn Sie tanzen und singen können, sind Sie reif für Brahms. Sie müssen beides gleichermaßen gut können. Beethoven lässt Sie zielstrebig und entschieden werden. Von Schumann lernen Sie, dass die gelegentliche Nachgiebigkeit, das Schlingern, das Sichverlieren an eine Melodie auch zur Musik gehören. Sie müssen aus Ihrer Schale herauskommen. Für Brahms brauchen Sie beides.
Muss man bei Brahms auch hinter die Fassade seiner wahnsinnig guten Absicherung des musikalischen Handwerks schauen?
Ja, das ist das Schwerste. Viele Musiker werden Ihnen sagen: „Schauen Sie sich diese unglaubliche Architektur an! Wie er das zusammengefügt hat! Diese vielen Ableitungen und Fortspinnungen!“ Ja, klar, verstanden. Aber Architektur allein ist nicht genug. Sie ist großartig, doch es muss da weitere Schichten geben. Wenn wir nur über die Architektur in der Musik von Johann Sebastian Bach reden, würden wir sehr viel vermissen. Natürlich ist das staunenswert gefügt, aber es dringt Ihnen auch mitten in die Seele.
Seelenlos ist Brahms wahrlich nicht.
Eben. Und er versteckt so viel. Wir wären vielleicht glücklich zu wissen, was alles. Vielleicht gibt es den einen oder anderen Schlüssel in Berichten von Zeitgenossen. Aber meiner Meinung nach kommt es gar nicht so genau auf Details und Fakten an. Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal Leonard Bernstein mit Brahms gehört habe. Es war zuerst schrecklich, völlig unmöglich nach meinen Erfahrungen mit Karajan. Dem waren Striche, Details der Bogenführung geradezu egal, aber dann tat er etwas auf; er fragte nach dem, was hinter dieser perfekten Schönheit liegen könnte. Er war die erste Persönlichkeit, die mir Mut machte: „Lass dich nicht einschüchtern! Mach dich ruhig zum Narren. Das ist schon okay manchmal. Du lernst was dabei“.
Was haben Sie inzwischen Neues über Brahms gelernt?
Viel über die größere Agilität kleiner Orchesterbesetzungen. Ältere Brahms-Aufnahmen sind immer Monumente. Dabei schreibt er auch in seinen Symphonien eigentlich Kammermusik. Mittelstimmen bleiben hörbar, wenn die ursprüngliche Balance stimmt. Aber dann taucht eine andere Gefahr auf: Wenn Sie immer filigraner spielen, alle Details ausgestalten, verlieren Sie leicht den Blick auf das Ganze, für die Kraft bei Brahms, seinen echten Symphonismus, das Panorama.
Die Interpretation wird dann zu mikroskopisch.
Ja, genau! Und dann müssen Sie überlegen: Wie kriegen Sie beides zusammen? Wie vermeiden Sie es, eins von beidem zu opfern? Und es darf nicht wie eine Doktorarbeit klingen; es muss eine lebendige Aufführung werden.
In Ihrer Aufnahme der zweiten Symphonie von Brahms, die schon – bei RCA/Sony – auf dem Markt ist, fällt die Sorgfalt der Artikulation auf. Ein Großteil der Spannung entsteht daraus, dass Holzbläser und Streicher – so wie bei Brahms notiert – gleichzeitig in unterschiedlichen Phrasenlängen spielen. Es gibt asynchrone Zäsuren zwischen ihnen.
Brahms notiert sparsam, aber genau. Er gibt Ihnen ziemlich entschiedene Hinweise, was zu tun ist. In der Artikulation genauso wie in der Orchestrierung. Es gibt bei ihm Pianissimo-Stellen, wo er Trompeten einsetzt. Diese Trompeten müssen leuchten. Wie ein Nimbus, wie ein Halo. Wissen Sie, woher das Leuchten kommt? In Orchestrationslehren wird Ihnen beigebracht, dass Trompeten unisono spielen sollen. Brahms aber lässt sie in Oktaven spielen – und zwar in einer Lage, wo das fast unmöglich ist. Da kann es leicht passieren, dass sie kieksen oder gurken. Aber wenn das nicht passiert, dann ist es umwerfend. Das geht Ihnen durch den ganzen Körper. Das ist wie eine seelische Schusswunde.
Manchmal gibt es formale Ambivalenzen bei Brahms, zum Beispiel in der zweiten Symphonie. Sie fängt direkt mit der Exposition des ersten Themas an, aber dieser Anfang lässt sich hören wie eine langsame Einleitung.
Ja, das ist brillant! Wir haben im Orchester lange darüber nachgedacht und sind dann darauf gekommen, dass diese Symphonie nicht anfangen darf, als würde sie anfangen, sondern als würde die Musik schon lange im Fluss sein, und wir blenden uns einfach an dieser Stelle ein.
Sie sind ziemlich flexibel mit dem Tempo. Sie spielen kaum im Einheitstempo vom ersten bis zum letzten Takt durch.
Brahms war als Dirigent eigener Werke – darüber gibt es Augenzeugenberichte – berühmt für seine starken Temposchwankungen. Er konnte das Metronom nicht leiden. Für ihn hatte Musik ihre jeweils eigene Zeit, ihr eigenes Leben. Tempo ist für ihn kein Zeitmaß, sondern eine Art Umwelt, in der etwas lebt. Aber dieses passende Grundtempo bei Brahms zu finden ist eine echte Crux. Darüber müssen Sie sich lange den Kopf zerbrechen.
Welche der Symphonien war die schwierigste für Sie? Ich vermute: die erste.
Wollte ich gerade sagen. Bei dem Stück stehen Sie vor dem fast unlösbaren Problem, dass Sie die epische Größe dieser Musik nicht unterschlagen dürfen, dass Sie nicht zu akademisch und analytisch werden und den organischen Fluss verlieren. Gleichzeitig muss es gut strukturiert klingen. Das ist ein hartes und erschöpfendes Stück. Und ähnlich geht es mir mit dem Finale der Vierten. Diese Symphonie endet einfach nicht. Dabei ist die Vierte von allen das logischste, am besten konstruierte Stück. Die Zweite ist die Zugänglichste von allen. Die Dritte hat viel mit einer klugen Ästhetik des Sentimentalen zu tun: ob man sich und dem Publikum gestattet, gefühlvoll zu werden. Jeder trägt eine gewisse Sentimentalität in sich. Und in der dritten Symphonie von Brahms gibt es etwas, das unter der Ebene des Selbstbewusstseins liegt und sehr berührend ist, eine eigene Form von Wirklichkeit, die Menschen gern hinter der Schönheit des Klangs verstecken. Aber hier geht es auch um Verletzlichkeit.
Brahms ist ohne Melancholie nicht zu denken
Melancholie! Das ist es genau, was ich meine. Auch ein wenig Nostalgie.
Das Hornsolo in der Coda des Kopfsatzes der Zweiten ist so ein Moment tiefer Melancholie.
Oh ja! Und zugleich so leidenschaftlich! Das ist dieses Gefühl: Es hätte etwas werden können, aber es wurde nichts. Es ist die Trauer über eine lebensentscheidende verpasste Chance. Genau danach suchen wir in unserer Interpretation. Es geht nicht nur um ein schön geblasenes Solo. Es muss einem das Herz brechen.
Man muss der Musik erlauben zu weinen.
Genau. Und dann kommen die Musiker alten Schlags immer mit dem Satz: „Brahms weint nicht, Brahms ist gewichtig und bedeutend“. Die sind alle mit diesen monumentalen Aufnahmen aufgewachsen. Und wir, auch ich, stehen immer noch unter diesem gewaltigen Einfluss. Das kann ich nicht ändern. Dabei ist es genau so, wie Sie sagen: Man muss der Musik erlauben zu weinen.
Wie hat sich Brahms in den vier Symphonien Ihrer Meinung nach entwickelt? Ist es menschlich ein Weg von der Hoffnung zur Verzweiflung?
Ich höre Wut, wachsende Wut und Frustration, vielleicht am Ende wirklich Verzweiflung, aber sehr gut versteckt hinter der Mauer einer immer brillanter werdenden Konstruktion.
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