Kleine Sensationen

 Hannoversche Allgemeine Zeitung

 Kultur

 09.05.23

Rainer Wagner

Sol Gabetta und Paavo Järvi begeistern mit der Deutschen Kammerphilharmonie das Pro-Musica-Publikum

Klassik-Krise? Welche Klassik-Kri- se? Dieses Pro-Musica-Konzert ist sichtlich ausverkauft, das Publikum animiert, die Musiker reißen mit. Und das bei einem Programm, das nicht aus dem Rahmen fällt, aber viele kleine Sensationen und Klang- reize bietet.

Zweimal Haydn, einmal Schu- mann, was soll da schon passieren? Viel! Nun weiß man, dass Paavo Jär- vi und die Deutsche Kammerphil- harmonie Bremen den etablierten Klassik-Kanon effektvoll entstau- ben. Ihre Gesamtaufnahmen der Sinfonien von Beethoven, Brahms und Schumann sind zu Recht hoch gelobt. Jetzt machen sie sich an die zwölf „Londoner Sinfonien“ von Jo- seph Haydn, und wieder darf man mit Witz und Vitalität rechnen. Und wird im Großen Sendesaal des NDR nicht enttäuscht.

Haydns Sinfonie Nr. 93 ist im glorreichen Dutzend seiner letzten Sinfonien nicht die populärste, abervoller Charme. Natürlich laden Jär- vi und das blendend aufgelegte Or- chester die Adagio-Einleitung mit der nötigen Spannung auf, die da- nach den tänzerischen Charakter des Allegro um so effektvoller zur Wirkung kommen lässt. Der subtile Humor Haydns liegt ihnen, das Spiel aus Pausen und Überraschun- gen macht den Musikern wohl so viel Spaß wie den Zuhörern.

Und natürlich ist das Finale des Largos so gewitzt wie nötig – „witty“ haben das die Londoner einst beider Uraufführung wohl genannt, wenn in den Schlussdialog der da- hingetupften Pianotöne von Flöten und Oboen das Fagott mit einem sehr tiefen Fortissimoton knallt. Das Menuetto ist dann gar nicht gemüt- lich, sondern schwungvoll, das Fi- nale hat Charme und Schwung.

Zugabe aus „Eugen Onegin“

Danach kommt Sol Gabetta. Schu- manns Cello-Konzert erklingt bei ihr wie aus einem Guss: ein großer intensiver Gesang. Mit warmem Ton, einer breiten Farbpalette und feinen Schattierungen. Järvi und das junge Orchester sorgen für die animierenden Akzente und unter- brechen den Fluss doch nicht.

Und sie sind auch beteiligt an der Zugabe, einer Arienbearbeitung aus Tschaikowksys Oper „Eugen One- gin“. Da weint Gabetta den ent- schwundenen Glückstagen so ein- drucksvoll nach, dass man den Dich- ter Onegin bitten möchte, er möge die Duellpistole weiterreichen, auf dass man sich erschießen könne.

Umso lebendiger tönt nach der Pause Joseph Haydns finale Sinfo- nie Nr. 104. Die hat Größe, wird aber nicht überladen. In Haydns sinfoni- schem Schaffen lauern zwei Gefah- ren: dass man sie nicht ernst genug nimmt. Oder zu ernst. Järvi und die Kammerphilharmonie sind davon nie gefährdet. Das hat Elan und Elastizität, trifft im Andante den ro- mantischen Ton, meidet im Menu- etto das Groteske nicht und vereint im Finale Volkstümlichkeit und de- zentes Pathos. Famos. Da darf man auf die Gesamteinspieler dieser zwölf Sinfonien neugierig sein.

Für die Zugabe bleiben die Bre- mer und ihr estnischer Chefdiri- gent in Österreich: mit der Tritsch- Tratsch-Polka, die so pointiert hin- geknallt wird, als habe der ameri- kanische Gag-Komponist Leroy Anderson Johann Strauss frisch poliert. Beste Stimmung allenthal- ben.

Info Am 3. Juni spielt Pianist Rudolf Buchbinder im Großen Sendesaal.



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