CONCERT REVIEW: Der Norden lässt aufhorchen
Der Norden lässt aufhorchen
Paavo Järvi stellt sich mit "Kullervo" von Sibelius als hr-Chefdirigent vor
Von Volker Milch
Wiesbadener Tagblatt, 14.10.2006
FRANKFURT Mit ihren ganz persönlichen Noten bleiben sie in Erinnerung, die Chefdirigenten des Frankfurter Radio-Sinfonieorchesters, das sich mittlerweile hr-Sinfonieorchester nennt. Bei Eliahu Inbal (1974-1990) denkt man an seine intensive Beschäftigung mit den Bruckner-Urfassungen, bei Dmitrij Kitajenko (1990-1996) an die russischen Repertoire-Schwerpunkte, bei dem unlängst verabschiedeten Hugh Wolff (1997-2006) an originelle Programm-Konzeptionen und eine Erweiterung des stilistischen Spektrums durch die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis.
Nun hat der aus Estland gebürtige Paavo Järvi das Amt des hr-Chefdirigenten angetreten. Järvi, 1962 in Tallinn geborener Sohn des Dirigenten Neeme Järvi, hat (auch im Gespräch mit dieser Zeitung) als einen Schwerpunkt seiner Frankfurter Arbeit Musik aus dem Baltikum angekündigt: "Eine Gegend mit viel guter Musik". Auch wenn er als Gast längst eine feste Größe in Frankfurt ist und sich hier mehrfach für "Nordisches" stark gemacht hat, wächst dem Programm der Antrittskonzerte in der Alten Oper besondere Bedeutung und gesteigerte Aufmerksamkeit zu.
Erfreulich, dass Järvi zum Auftakt seiner ersten, "Aufbruch" überschriebenen Saison das Publikum mit einer ausgesprochenen Rarität bekannt gemacht hat, mit einem Jugendwerk von Jean Sibelius, mit der Sinfonischen Dichtung "Kullervo" für Orchester, Soli und Männerchor. Der Komponist, dessen Rezeption nach dem berühmt-berüchtigten Adorno-Verdikt und der Vereinnahmung durch nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie im Nachkriegsdeutschland einigermaßen holprig verlief, traf mit der Uraufführung in Helsinki 1892 im zarten Alter von 26 Jahren offenbar den Nerv der Zeit und seiner nach Unabhängigkeit strebenden Heimat. Das Werk begründete seinen Ruf als Nationalkomponist.
In den beiden mit Soli und Männerchor besetzten Sätzen der fünfsätzigen Sinfonie greift Sibelius den tragischen Kullervo-Mythos aus dem finnischen Nationalepos "Kalevala" auf: Der junge Held Kullervo verführt unwissentlich seine Schwester und stürzt sich, nachdem ihm der Inzest bewusst wird, ins eigene Schwert.
Das klingt durchaus so düster, wie es sich liest. Sibelius, der sich nach der Uraufführung von der Sinfonie distanzierte, schlägt hier doch schon einen ganz eigenen, tragisch-melancholischen Ton an, den man in seinen reiferen Kompositionen wiedererkennen wird. Das Pathos, das von Blech und Pauke immer wieder mächtig angeheizt wird, mag gelegentlich auf die Nerven gehen - an grandiosen Momenten fehlt es "Kullervo" nicht, wenn etwa die Blech-Gewitter plötzlich aufreißen und subtilen Holzbläser-Passagen Platz machen.
Im Allegro vivace des zentralen dritten Satzes, "Kullervo und seine Schwester", steigert sich die Szene zu opernhafter Dramatik: In holzschnittartigen, archaisch anmutenden Chor-Passagen skandieren die Männerstimmen den finnischen Text, und in expressiven Soli tragen der Bariton Jorma Hynninen und die Mezzosopranistin Charlotte Hellekant Schicksalhaftes bei - in einer beeindruckenden Identifikation mit den Partien, die erheblichen Anteil am großen Erfolg des Abends hat. Als gut trainierter Klangkörper zeigte sich der Nationale Männerchor Estlands, bestens vertraut mit dem Idiom und unter Paavo Järvis Leitung mit Sibelius-Kantaten bereits zu "Grammie"-Ehren gekommen.
Inmitten der Klanggewalt, die mit "Kullervos Tod" in einem Klagegesang endet, agiert der neue Chefdirigent mit ökonomischer, präziser Schlagtechnik so souverän, wie man ihn in Frankfurt bereits kennt. Paavo Järvi ist gewiss kein Mann der Maestro-Posen, aber hinter seiner entspannten, sachlichen Freundlichkeit am Pult bleibt eine mitreißende, auch das hr-Sinfonieorchester ansteckende Begeisterung spürbar. Ein erfreulicher "Aufbruch", dem mit der Uraufführung von Erkki-Sven Tüürs Klavierkonzert am 23./24. November eine weitere Entdeckungsreise in nordische Gefilde folgen wird.
Paavo Järvi stellt sich mit "Kullervo" von Sibelius als hr-Chefdirigent vor
Von Volker Milch
Wiesbadener Tagblatt, 14.10.2006
FRANKFURT Mit ihren ganz persönlichen Noten bleiben sie in Erinnerung, die Chefdirigenten des Frankfurter Radio-Sinfonieorchesters, das sich mittlerweile hr-Sinfonieorchester nennt. Bei Eliahu Inbal (1974-1990) denkt man an seine intensive Beschäftigung mit den Bruckner-Urfassungen, bei Dmitrij Kitajenko (1990-1996) an die russischen Repertoire-Schwerpunkte, bei dem unlängst verabschiedeten Hugh Wolff (1997-2006) an originelle Programm-Konzeptionen und eine Erweiterung des stilistischen Spektrums durch die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis.
Nun hat der aus Estland gebürtige Paavo Järvi das Amt des hr-Chefdirigenten angetreten. Järvi, 1962 in Tallinn geborener Sohn des Dirigenten Neeme Järvi, hat (auch im Gespräch mit dieser Zeitung) als einen Schwerpunkt seiner Frankfurter Arbeit Musik aus dem Baltikum angekündigt: "Eine Gegend mit viel guter Musik". Auch wenn er als Gast längst eine feste Größe in Frankfurt ist und sich hier mehrfach für "Nordisches" stark gemacht hat, wächst dem Programm der Antrittskonzerte in der Alten Oper besondere Bedeutung und gesteigerte Aufmerksamkeit zu.
Erfreulich, dass Järvi zum Auftakt seiner ersten, "Aufbruch" überschriebenen Saison das Publikum mit einer ausgesprochenen Rarität bekannt gemacht hat, mit einem Jugendwerk von Jean Sibelius, mit der Sinfonischen Dichtung "Kullervo" für Orchester, Soli und Männerchor. Der Komponist, dessen Rezeption nach dem berühmt-berüchtigten Adorno-Verdikt und der Vereinnahmung durch nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie im Nachkriegsdeutschland einigermaßen holprig verlief, traf mit der Uraufführung in Helsinki 1892 im zarten Alter von 26 Jahren offenbar den Nerv der Zeit und seiner nach Unabhängigkeit strebenden Heimat. Das Werk begründete seinen Ruf als Nationalkomponist.
In den beiden mit Soli und Männerchor besetzten Sätzen der fünfsätzigen Sinfonie greift Sibelius den tragischen Kullervo-Mythos aus dem finnischen Nationalepos "Kalevala" auf: Der junge Held Kullervo verführt unwissentlich seine Schwester und stürzt sich, nachdem ihm der Inzest bewusst wird, ins eigene Schwert.
Das klingt durchaus so düster, wie es sich liest. Sibelius, der sich nach der Uraufführung von der Sinfonie distanzierte, schlägt hier doch schon einen ganz eigenen, tragisch-melancholischen Ton an, den man in seinen reiferen Kompositionen wiedererkennen wird. Das Pathos, das von Blech und Pauke immer wieder mächtig angeheizt wird, mag gelegentlich auf die Nerven gehen - an grandiosen Momenten fehlt es "Kullervo" nicht, wenn etwa die Blech-Gewitter plötzlich aufreißen und subtilen Holzbläser-Passagen Platz machen.
Im Allegro vivace des zentralen dritten Satzes, "Kullervo und seine Schwester", steigert sich die Szene zu opernhafter Dramatik: In holzschnittartigen, archaisch anmutenden Chor-Passagen skandieren die Männerstimmen den finnischen Text, und in expressiven Soli tragen der Bariton Jorma Hynninen und die Mezzosopranistin Charlotte Hellekant Schicksalhaftes bei - in einer beeindruckenden Identifikation mit den Partien, die erheblichen Anteil am großen Erfolg des Abends hat. Als gut trainierter Klangkörper zeigte sich der Nationale Männerchor Estlands, bestens vertraut mit dem Idiom und unter Paavo Järvis Leitung mit Sibelius-Kantaten bereits zu "Grammie"-Ehren gekommen.
Inmitten der Klanggewalt, die mit "Kullervos Tod" in einem Klagegesang endet, agiert der neue Chefdirigent mit ökonomischer, präziser Schlagtechnik so souverän, wie man ihn in Frankfurt bereits kennt. Paavo Järvi ist gewiss kein Mann der Maestro-Posen, aber hinter seiner entspannten, sachlichen Freundlichkeit am Pult bleibt eine mitreißende, auch das hr-Sinfonieorchester ansteckende Begeisterung spürbar. Ein erfreulicher "Aufbruch", dem mit der Uraufführung von Erkki-Sven Tüürs Klavierkonzert am 23./24. November eine weitere Entdeckungsreise in nordische Gefilde folgen wird.
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