CONCERT REVIEW: Nordische Zeiten
Here, from the Frankfurter Rundschau, is a review of Paavo's debut as Music Director of the Frankfurt Radio Symphony Orchestra. [Sigh. Time to try Babelfish again.]
Nordische Zeiten
Paavo Järvi und das HR-Sinfonieorchester mit Sibelius' "Kullervo"
Von HANS-JÜRGEN LINKE
Frankfurter Rundschau (13.10.06)
So groß wie ihn der Hessische Rundfunk derzeit auf der Kaufhof-Fassade plakatiert, ist er nun auch wieder nicht, aber bei seinem ersten Konzert als Chefdirigent des HR-Sinfonieorchesters in der Alten Oper zeigte Paavo Järvi sich doch als Dirigent von beachtlicher Statur, was nicht physisch gemeint ist. Sein Ausdruckswille ist furios, und sein Wissen um das, was er will, reichhaltig. Er agiert mit großer Energie, ebenso großer Präzision und einem deutlichen Bekenntnis zu abrupten Gesten: Allemal gibt er der Plötzlichkeit und der zugespitzten, verdichteten Intensität den Vorzug gegenüber sämigem Farbauftrag und wallendem Nebel. Er mischt keine fahlen Töne, sondern zeichnet klare Konturen und produziert eher heftige als vorsichtige Effekte. Zumindest klang es so in der fünfsätzigen und formal recht hybriden - weil im Mittel- und im Finalsatz oratorienhaft und gewichtig auftrumpfenden - Riesen-Dramen-Sinfonie Kullervo des jungen Jean Sibelius, mit der Paavo Järvi und sein Orchester programmatisch ihre erste gemeinsame Spielzeit eröffneten.
Programmatisch: Weil er die erklärte Absicht verfolgt, zunächst einen Schwerpunkt auf "nordische Musik" zu setzen. Nun kann es geschehen, dass es hier zu Lande Menschen gibt, denen bei diesem Wort etwas unangenehm zumute wird, aber sie dürfen sich beruhigen: Paavo Järvi hat erstens als Este dazu ein ganz anderes Verhältnis, und zweitens wird in Nordosteuropa dieser Terminus seit einiger Zeit als Kürzel verwendet, um einen Kulturraum zu bezeichnen, der die alten Blockgrenzen negiert und die skandinavischen Länder ebenso einbezieht wie den baltischen Raum und den nordwestlichen Teil Russlands. So dass also beispielsweise Grieg ebenso dazu gehört wie Tüür oder Tschaikowski.
Und eben Sibelius. Der hat seinen Rang als finnischer Nationalkomponist in den Zeiten der politischen Geburtswehen dieser Nation im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter anderem damit erworben, dass er aus dem so genannten finnischen Nationalepos Kalevala Material für seine Kompositionen gewonnen hat. Kullervo ist ein tragischer Held aus diesem Mythenkreis; er verführt seine (ihm noch unbekannte) Schwester, die daraufhin Selbstmord begeht, zieht dann in den Krieg und stürzt sich am Ende in sein eigenes Schwert, was soll ein Held auch sonst tun. Die eigentümliche Poesie und die etwas fremdartige Rhythmik prägen Sibelius' Werk stark, so dass die zeitgenössische Wahrnehmung, hier handele es sich um ein spezifisch finnisches Stück Musik, nicht ganz von der Hand zu weisen ist.
Blut, Blech und Marschtakt
Ebenfalls sehr nordisch klingt der nationale Männerchor Estlands, der die (überwiegend einstimmig gesetzten) Chorpassagen mit überaus sensibler Dynamik interpretiert; was die Textverständlichkeit anbelangt, fällt allerdings das Urteil schwer. Die Solopartien im dritten Satz wurden souverän gestaltet von der dramatisch ausdrucksreichen Mezzosopranistin Charlotte Hellekant und dem Bariton Jorma Hynninen mit imposantem Timbre und hoher Differenzierungsfähigkeit, so dass Kullervos Begegnung mit seiner Schwester das legitime dramatische Hauptstück des Abends waren.
Aber wer meinte, damit sei die finnische Nationalmusik fertig, hatte Sibelius und Järvi unterschätzt. Järvi nutzte den vierten Satz ("Kullervo zieht in den Kampf"), um in einem intensiven Breitwand-Klanggemälde darauf hinzuweisen, dass eine Nation nicht ohne Blut und Blech und Marschtakt entsteht, dass also die idyllische Stimmung des Einleitungssatzes, die eher feierliche des zweiten und die Dramatik und Trauer des Finalsatzes eben nicht die komplette Aussage ausmachen.
Järvi nahm sich dafür übrigens vergleichsweise viel Zeit, und das vorzüglich aufgelegte Orchester machte sich seinen Gestus des konzentrierten Auskostens dieser klanglich und dramatisch effektvollen Musik vorbildlich zueigen. Der Norden scheint ein eigenes Zeitgefühl zu haben.
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