Eine neue Philharmonie in den Tagen des Terrors

Die Welt.de
Manuel Brug
15/01/2014

Acht Tage früher hätte Frankreichs Präsident einfach einen schönen, langersehnten Konzertsaal eröffnet. Jetzt weihte Francois Hollande die neue Pariser Philharmonie als stolzes Symbol der Kunst ein.
Zuerst zählt, wir sind schließlich in einer neuen Konzerthaus, die Akustik. Die ist grandios. Doch davon später. Denn die endlich, freilich genau eine Woche nach den islamistischen Terrormorden von Paris in der noch tief traumatisierten französischen Hauptstadt eröffnete Philharmonie, sie steht plötzlich und sehr richtig für etwas ganz anderes als nur für formidablen Orchesterklang.

Dieses Andere, es teilt sich, auch das ist ein Glück, auf der Dachterrasse des 380 Millionen Euro teuren Gebäudes mit. Das Luxus-Ufo von Jean Nouvel, dessen hässlich brutaler Dekonstruktivismus, der auch von 340.000 in fünf Aluminiumgrauschattierungen blinkernden Metall- und Betonfliesen als Außenhautverkleidung nicht abgemildert wird, gnädigerweise von hier oben nicht zu sehen ist, offenbart nämlich einen sehr sinnfälligen Panoramablick.

Der reicht an diesem tristen Januarmorgen, an dem die Stadt irgendwie immer noch Trauer trägt und in weit mehr Paris-Grau-Valeurs gehüllt scheint als sonst, von der meist zugestauten Peripherie-Autobahn und einen neuen Straßenbahnknotenpunkt über den aus allen möglichen (und leider unmöglichen) Baustilen zusammengefügten Parc de la Villette über die islamischen Migrantenaußenbezirke Aubervilliers und Saint-Denis, die alte Kunstmühle von Pantin, jetzt ein Bank-Hauptquartier mit 4000 Beschäftigten, bis zur Hermès-Zentrale samt Handwerker-Ateliers.
Die große, edle und ernste Musik

Jetzt, wo plötzlich der Himmel aufreißt und die Sonne blendend über den Pariser Hochhausgürteln am Horizont steht, erkennt man, ganz weit weg und spielzeugklein, zudem die Spitzen der berühmten Silhouette: die Tour Montparnasse, den Invalidendom, den Eiffelturm, Sacre Coeur und La Defense.

Ganz weit weg. Am reichen Rive Gauche und im noch reicheren Westen. Dort, wo im feinen 8. Arrondissement in der Rue Montaigne zwischen Couture-Flagship-Stores und 5-Sterne-Hotels die von einer staatlichen Bank betriebene Art-Deco-Ikone Théâtre des Champs-Élysees mit ihrem Gastspielreigen der Weltklasseklangkörper ragt. Und an der Rue Faubourg Saint Honoré 525 – außen ebenfalls Art Deco, innen nach der Renovierung 2006 akustisch optimiert, aber optisch verpfuscht – mit der Salle Playel, dem einstigen Demonstrationssalon des berühmten Klavierbauers, bis zu diesem Tag der Pariser Klassiktempel lag.

Das war einmal. Jetzt soll die große, edle und ernste Musik vor allem im 19. Arrondissement spielen. Für ein anderes, neues Publikum. Fast rund um die Uhr soll die neue Philharmonie offen sein, genauso wie hier jede Art von Klangerzeugung möglich sein muss. Und die Leute aus den Vorstädten, besonders auch die Migranten, sollen in dieses in jedem Sinn schrankenfreie Gebäude kommen, das von hinten aussieht wie ein versteinerter Haufen Elefantenkot und von vorn wie ein Plattenhaufen aus dem silberne Soße quillt.
Eine schöne Utopie?

Eine schöne Utopie? So will es jedenfalls der Staat. Und der, wir sind schließlich in Frankreich, schafft an – und bezahlt auch. Heute eben die Philharmonie de Paris. Schon Berlioz ersehnte sie, Pierre Boulez, der Pate des Pariser Nachkriegsmusikbetriebs, setzte sie schließlich durch. Allerdings mehr als 30 Jahre nachdem Valéry Giscard d'Estaing sie vorgeschlagen, Francois Mitterrand mit seinem Turbo-Kulturminister Jack Lang sie im 1983 begonnenen Parc de la Villette neben der Gusseisenhalle des ehemaligen Zentralschlachthofes als Cité de la Musique konkretisieren wollte.

1995 eröffneten hier freilich, situiert in Christian de Portzamparcs wie auch beim gegenüberliegenden Konservatorium grässlich aus der Mode gekommenem Quaderbruitismus, nur der Kammermusiksaal mit 900 Plätzen für das von Boulez gegründete Ensemble Intercontemporain sowie später das Musikmuseum. Denn 1989 bereits hatte Mitterrand lieber als zweites Haus der Opéra die Bastille-Oper zum 200. Revolutionsjubiläum eingeweiht – und gleich wieder geschlossen; denn das Monsterbauwerk war noch längst nicht fertig.

Der repräsentative, klangprächtige, international konkurrenzfähige Konzertsaal für Paris, der musste noch drei weitere Präsidenten und 20 Jahre warten. Am Ende wurde er, wir sind immer noch in der Grande Nation, natürlich ein Grand Project. Heftig umstritten, von Bauskandalen, Verteuerungen und Streitereien mit dem Stararchitekten wie den Geldgebern geschüttelt, kaum noch für möglich gehalten, vom Abbruch bedroht, aber schon zu weit fortgeschritten, schließlich realisiert. Dann allerdings doppelt so aufwändig, aber immer noch nur die Hälfte der Mittel der Hamburger Elbphilharmonie benötigend.


Foto: Philharmonie de Paris / Jean Nou Sturmgeschütz der Hochkultur: die neue Pariser Philharmonie
Ja, man muss sagen: Steht man jetzt bei der Probe des Hausensembles Orchestre de Paris mal im kurzen Parkett mit seinen schwarzglänzenden Sitzen, mal in einem der beiden schwarz und weiß oder mit naturlackiertem Holz verkleideten Ränge hinter und über den Orchester, schließlich in den scheinbar fliegenden, asymmetrisch gebogenen Logen über den indirekt beleuchtet die bumerangartigen gekrümmten oder zur zentralen Wolke geklupptem Akustiksegel hängen, es ist ein fantastischer Saal geworden. 2400 Besucher fassend und doch intim. Als formvollendet organische, fast eckenlos weich gerundete Mischung aus Schuhkarton- und Weinberg-Prinzip, den beiden von den Akustikern präferierten Formen.

Wie in einer Gebärmutter versinkt man darin kuschelig im weich abgefederten Klang. Der aber ist, auch am Abend, bei vollem Saal, warm und gleichzeitig klar, mit einem noblen, langen, dunklen Nachhall und trotzdem fein strukturiert und kristallin. Eben noch hat Paavo Järvi, der estnische Chefdirigent geschwärmt, wie gut sich auch die Musiker hören können, was hier nur für Differenzierungen im Spiel möglich sind. Dann proben sie unbeirrt vom Bohren und Hämmern der längst noch nicht fertigen Bauarbeiter im Saal das Konzert für Orchester von Thierry Escaich, eine wohlfeil aus zweiter Moderne-Hand klingende, 30-minütige Uraufführung.

Auch die anderen Künstler, Frankreichs Stargeiger Renaud Capucon, der ein kleines Henri-Dutilleux-Stück beisteuert, und der von Järvi hochgeschätzte deutsche Bariton Matthias Goerne, der mit der Sopranistin Sabine Devieilhe und dem natürlich vorkommen müssenden Chor des Orchesters Teile aus Gabriel Faurés Requiem innig berührend aufführt, sie sind einschränkungslos begeistert. Obwohl sie im Staub proben mussten, im Saal noch ganze Sitzreihen fehlen, die Außenhaut nicht fertig ist, überall Löcher und aufgerissen Wandflächen klaffen, hinter der Bühne Geröllhaufen liegen, in den fast atmungsaktiv sich verjüngenden und aufpumpenden Foyers die Deckenverkleidung aus tausenden Metallstreifen aufgehängt wird – und noch nicht einmal das Dirigentenzimmer bezugsfertig ist.
"Je suis Charlie"-Signum den Toten gewidmet

Dieses so weltlich abgeklärt Requiem das mit dem "In Paradisum" ätherisch zart verklingt, es stand schon vor dem schwarzen Mittwoch auf dem Programm, das jetzt einfach nur unter dem "Je suis Charlie"-Signum den Toten gewidmet ist. Genauso wie die Farbe der Philharmonie-Publikationen mit dem doppelt verschlungenen, auch zwei Flügeln von oben ähnelnden P schon Schwarz gewesen ist, bevor Francois Hollande wusste, dass er noch am Tag vorher an Polizistensärgen vorbeidefilieren würde.

Paris war nie wirklich eine Konzertstadt, und wenn, dann eine sehr snobistisch-konservative, mit elitärem Publikum und langweiligen Programmen. Was erst nach 1950 durch die gut vernetzten zeitgenössischen Komponisten wie durch die vielen hervorragenden, aber freien Barockensembles ein wenig besser wurde. Schon das Paris des 19. Jahrhunderts, war vor allem die Opernhauptstadt der Welt, Komponisten von Rossini bis Wagner, Meyerbeer bis Verdi wollten hier Karriere machen. Die tonangebenden Klangkörper sind, neben dem 1672 gegründeten Opernorchester, das unter seinem brillanten Chef Philippe Jordan seine Konzerttätigkeit gegenwärtig ausweitet, das Orchestre de Paris (seit 1967 existent) und die zum Rundfunk gehörenden Orchestre National de France und Orchestre Philharmonique de Radio France, 1934 bzw. 1937 ins Leben gerufen.

Und während an der Seine lange das Konzertleben in minderen Sälen vor sich hin lief, herrscht jetzt plötzlich Bauboom. Im November weihte Radio France ein neues Auditorium mit 1000 Plätzen in zwei für 32 Millionen Euro entkernten Studios ein; gegenwärtig ist auch Jean Nouvel dabei, auf dem Gelände des ehemaligen Renault-Werkes auf der Seine-Insel Seguin im Pariser Süden ein Kulturzentrum zu entwickeln, das ebenfalls einen Konzertsaal mit über 1000 Plätzen bekommt. Dort ist der japanische Akustikguru Yasuhisa Toyota eingebunden, der sich bei der Philharmonie schon früh zurückgezogen hatte und den Neuseeländern Marshall Day Acoustics das prima gemeisterte Klangfeld überließ. Auch der kranke, bald 90-jährige Pierre Boulez und der schmollende Architekt fehlten bei der Eröffnung.
Die Herkulesaufgabe von Laurent Bayle

Philharmonie-Direktor Laurent Bayle, schon lange systematisch als Boulez-Dauphin aufgebaut, muss nun eine Herkulesaufgabe schultern. Er hat nicht nur im, was Garderoben, Wegführung und andere Alltagsdinge betrifft, nicht sonderlich praktischen Zentralhaus den großen, erstaunlich wandelbaren und bis auf 3600 Zuschauer erweiterbaren Saal, den nobel mit Tageslicht ausgestatteten Probensaal und im Keller 15 mit allen multimedialen Finessen ausgestattete Education-Studios zu bespielen. Es gibt zudem eine mit der auch schon in Berlin gezeigten David-Bowie-Schau startende Wechselausstellungsfläche, einen Laden und zwei Restaurants.

Bayle wird hier zu moderaten Preisen (40 Euro Spitze) seine weiteres Hausensemble Intercontemporain sowie die assoziierte Barocktruppe Les Arts Florissants, das Orcheste de Chambre de Paris und das Orchestre National de l'Île de France, aber auch die besten ausländischen Orchester als Dauerfestival präsentieren. Er ist zudem für den jetzt als Philharmonie 2 laufenden Cité de la Musique-Saal verantwortlich und muss, als Schuldenausgleich, vier bis fünf Millionen Euro bei einem Pop-Promotor für die vermietete Salle Playel eintreiben, in der keine Klassik mehr stattfinden darf.

Das verschnupft natürlich die Stammklientel, die jetzt lange Anfahrtswegen zu Porte de Pantin, wohin auch die Jugend in die Zeltkonstruktion Zenith zu Rockkonzerten pilgert, in Kauf nehmen muss – ohne ihr gewohntes Restaurant- und Sozialumfeld. Ob die bisherigen Besucher kommen, ob neue generiert werden, das muss die Zukunft zeigen. Bisher ist Laurent Bayle mit einem 36 Millionen-Etat üppig ausgestattet, aber Frankreich ist nicht nur politisch und moralisch in der Krise, es wurde, nach politischen Rangeleien zwischen Staat und Stadt, auch schon wieder kräftig gekürzt.

Doch während Francois Hollande acht Tage früher einfach ein neues, lang erwartetes, akustisch sehr gutes Konzerthaus eingeweiht hätte und dafür nicht unbedingt schon beim Eintreten mit langen Standing Ovations begrüßt worden wäre, wurde die neue Philharmonie jetzt zu einem trotzig eröffneten Fanal der Freiheit im Namen der Kunst. Nicht nur spielte man am ersten Abend, wie lange geplant, nur französisch Werke, darunter noch eine ironische Einstimmübung von Edgar Varèse sowie Ravels jazziges G-Dur-Klavierkonzert (mit der quicken Hélène Grimaud) und dessen erste "Daphnis et Chloe"-Suite. Holland konnte mit voller Überzeugung am Ende seiner Rede sagen. "Vive la musique, vive l'art, vive la republique, vive la France!"

Und so lange das so patriotisch begeistert aufgenommen wird und so schön klingt, ist in der neuen Philharmonie de Paris alles gut.

http://www.welt.de/kultur/buehne-konzert/article136421577/Ein-Fanal-fuer-die-Freiheit-im-Namen-der-Kuenste.html

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