Es
ist ein Saal, der Assoziationen an Veloursleder weckt, an das luxuriöse
Understatement geschwungener Art-déco-Möbel, an die Zauberwelt der
Nixen. Er vermittelt einen Eindruck von Komfort, von Grosszügigkeit ohne
Ostentation, von Fremdheit, die nicht verunsichert, sondern fasziniert.
Der Saal von Jean Nouvels Philharmonie de Paris, die am 14. Januar
eingeweiht wurde, ist ein architektonisches Wunderwerk von
einschmeichelnder Weichheit. Gleich einem mentalen Raum in Samttönen
versetzt er den Geist des Konzertgängers in einen wohligen
Schwebezustand und erzeugt so eine mehr lockere als verkrampfte
Aufmerksamkeit. Man lauscht der Musik mit entspannten Nerven und
hellwachen Neuronen.
Forcierte Frühgeburt
Das eminent
plastische Aussehen des Saals verdankt sich der Anordnung der Sitzreihen
und Balkone in langgezogenen, weich verformten Waben rund um die Bühne.
Die Horizontalität wird durch stilisiert wolkenartige Reflektoren, die
von der Decke hängen, noch verstärkt, erhält durch die
rundgeschliffenen, durchweg asymmetrischen Formen aber etwas Fliessendes
und zugleich Dynamisches. Nichts hier ist eckig, selbst die breiten
Sitze weisen zugleich schlichte und elegante Kurven auf. Von dem
vergleichsweise strengen Konzertsaal des KKL Luzern, der dem
Schuhschachtel-Prinzip gehorcht, unterscheidet sich der dem
Weinberg-Modell der Berliner Philharmonie folgende Pariser Saal
grundlegend. Doch auch der grosse Saal von Nouvels Konzerthaus in
Kopenhagen wirkt, wiewohl derselben Typologie verpflichtet, kantiger;
seine ebenfalls terrassenförmig um die Bühne herum angeordneten Balkone
schneiden kristallartige Zacken, wo jene in Paris zu Schwaden
zerfliessen.
Als Meister der Farb- und Materialgebung hat Nouvel
sich hier selbst übertroffen. Grundton ist das Crèmeweiss der Gipswände
und -decke, von dem sich das Tiefschwarz der samtenen Sitze, hölzernen
Balkon-Ummantelungen und Trennwände im Rücken der Zuhörer abhebt. Je
höher der Saal, desto leuchtender: Das Schwarz wandelt sich in ein
blondes Gelb; indirektes Licht erlaubt es zudem, die weissen Flächen in
kräftige Farben zu tauchen. Von hohem Reiz ist der Kontrast zwischen der
matten Textur der Gipswände und dem glänzenden Lack des Holzes.
Letzteres übernimmt die unregelmässigen Stanzmuster von Ersteren, wendet
sie aber sozusagen ins Positive: Aus Löchern werden reliefartige
rechteckige Ausbuchtungen.
Spektakulär wirkt, dass sämtliche
Balkone sich von den Wänden abheben, mit denen sie durch Brücken
verbunden sind. Hinter den schalenartigen Trennwänden im Rücken der
Zuhörer entsteht so ein zweiter Hohl- und Resonanzraum, der das
Saalvolumen auf stolze 30 500 Kubikmeter anhebt. Mittels Vorhängen und
eines höhenverstellbaren Schallreflektors kann die Akustik angepasst
werden. Auch ist es möglich, die Ränge unter der Orgel abzubauen, die
Bühne dorthin zu verlegen und so das Parterre zu vergrössern. Oder aber
dieses in ein Stehparterre zu verwandeln, was das Fassungsvermögen von
2400 auf 3650 Zuhörer erhöht. In einer Orchesterprobe, bei der man von
einem Platz zum andern wechselte, wirkte der Klang klar und körperhaft,
bestach zugleich aber durch einen weichen, warmen Nachhall.
Freilich
ist der Saal – wie der ganze Bau – noch in einem Mass unvollendet, das
weit über französische Usancen bei Neueröffnungen hinausgeht. Nouvel,
der für eine Einweihung im Herbst plädiert hatte, blieb dem
Eröffnungsabend demonstrativ fern. Und protestierte harsch: In den
letzten Jahren seien Entscheide ohne ihn gefällt worden, das heutige
Erscheinungsbild der Philharmonie, das ein «cost killer» mitverantwortet
habe, sei eine Mischung aus Pfusch und Sabotage. Es werde viel Zeit und
Aufwand brauchen, die Folgen dieser forcierten «Frühgeburt» zu
korrigieren.
Ein Haus für Orchester
Von aussen gleicht
der Komplex, dessen Fassade und dessen begehbare «Dachlandschaft»
vielerorts noch im Bau sind, einem zerklüfteten Felsen. 340 000 stark
stilisierte Aluminium-Vögel in sieben Grössen und vier Grautönen
tapezieren den Bau, Vorplatz und monumentale Zugangsrampe inbegriffen.
Sie evozieren einen Vogelflug, wirken im Winterlicht aber wie ein
Tarnkleid: Die Konturen verfliessen, zumal matte und spiegelnde Flächen
alternieren, was den Komplex vexierbildhaft entmaterialisiert – ein
typisch Nouvelscher Effekt. Im Innern umgeben den Saal auf drei Niveaus
Gänge mit Foyer-Funktion, die hier breiter, da schmaler werden, den
Schwung der Balkone auf ihre ondulierenden Decken übertragen und entlang
streifenförmiger Fensterfronten Ausblicke auf den Vorplatz des Parc de
La Villette bieten.
Hier erblickt man auch die benachbarte Cité
de la musique von Christian de Portzamparc. Ursprünglich sollte dieses
1995 eröffnete «Centre Pompidou der Musik» neben seinen zwei 650 bis
1400 bzw. 250 Zuhörer fassenden Sälen auch einen grossen Konzert- und
sogar einen Opernsaal enthalten. Letzterer wurde an der Place de la
Bastille erbaut, Ersterer fehlte Paris seit je. Im Gegensatz zu
ausländischen Metropolen (und sogar zu Provinzorten wie Dijon, Grenoble,
Metz und Poitiers) entbehrte die Lichterstadt bis jetzt eines modernen
Auditoriums mit erstklassiger Akustik.
Die Philharmonie behebt
dieses Manko. Und bietet überdies dem Orchestre de Paris endlich wieder
ein festes Zuhause. Nicht nur werden dessen Musiker dort proben und all
ihre hauptstädtischen Konzerte geben, sie verfügen auch über zwei grosse
und vier mittlere Probesäle sowie zehn Studios zum Üben allein, zu
zweit oder zu dritt. Nachgerade luxuriöse Räumlichkeiten, die sie mit
vier «residierenden» oder «assoziierten» Ensembles teilen werden, von
denen zwei ebenfalls ihre Büros vor Ort haben: das von Thomas Zehetmair
geleitete Orchestre de chambre de Paris und William Christies
Barockensemble Les Arts Florissants.
Boulez' Traum erfüllt sich – zu spät
Die
Philharmonie bietet nicht nur Konzerte, sondern auch ein reiches
Begleitprogramm für Musikliebhaber «von 7 Monaten bis 107 Jahren». Etwa
eine 12-teilige Einführung in die zeitgenössische Musik, eine Schau über
David Bowie in dem 850 Quadratmeter grossen Ausstellungssaal oder
Schnupperkurse zu klassischen Streichinstrumenten, baskischem Gesang
oder E-Gitarre. Der neue Musikkomplex teilt mit der Cité de la musique,
mit der er noch heuer rechtlich fusionieren soll und deren Equipe um
Laurent Bayle sein Programmkonzept entworfen hat, die Neugier für
nichtklassische Musiken jeder Couleur. Auch darin dürfte er sich vom
Théâtre des Champs-Elysées abheben, das unter den Pariser Konzertsälen
nunmehr den konservativen Gegenpol bildet.
Ist das Ganze
tragfähig? Laurent Bayle gibt sich gelassen: La Villette und Umgebung
seien sozial stark durchmischt, befänden sich aber im Aufschwung – und
in 15, 20 Jahren womöglich gar im Herzen des «Grand Paris».
Unverantwortlich wirkt indes, dass die Pariser Stadtverwaltung, die –
gleichberechtigt mit dem Staat – das Projekt zu 45 Prozent trägt, kurz
vor der Eröffnung ihren Beitrag zum diesjährigen Betriebsbudget
verweigert hat. Für 2015, hiess es, fehlten der Stadt infolge einer
«brutalen» Senkung der staatlichen Dotationen 400 Millionen Euro,
folglich müsse sie den Rotstift ansetzen. Immerhin hat sie inzwischen 6
der versprochenen 9 Millionen Euro zugesagt. Aber das ursprüngliche
Betriebsbudget der Philharmonie lag bereits unter jenem der Cité de la
musique (35 Millionen Euro), was knapp bemessen schien. Nun sind es noch
einmal 3 Millionen Euro weniger – keine idealen Startbedingungen!
Jean
Nouvels Vogel-Fels ist wohl das letzte «grand projet» in Frankreich:
Die öffentlichen Kassen sind jetzt definitiv leer, auf Jahr(zehnt)e
hinaus. Womöglich noch trauriger stimmt freilich, dass der geistige
Vater des «Centre Pompidou der Musik», der 89-jährige Pierre Boulez, zu
geschwächt ist, um den Saal, für den er seit den 1970er Jahren gekämpft
hat, in Augenschein zu nehmen.
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