CD: Paavo Jervi und das sowjetrussische „Lieder der Wälder“

klassiker.welt.de
Manuel Brug
24/5/2015




Es gibt wenige Komponisten die – freiwillig wie unfreiwillig – die Zwiespältigkeit des 20. Jahrhunderts so packend in Noten bannen konnten wie Dmitri Schostakowitsch. Gerade aus deshalb weil der Grad zwischen Anpassung an die doktrinären Vorgaben an einen von den Kunstaufsichtsbehörden brutal exekutierten sowjetischen Realismus und der Freiheit zwischen den Partiturzeilen ein so prekär schmaler war. So schmal, dass es bisweilen ganz schwer ist für die Nachgeborenen, zu entscheiden, wo er mutig und wo er feige war – oder ob sich gar Beides in seiner Musik vereint. Was sie wiederum so faszinierend, spannend und auch janusköpfig macht.

Zu den lange abgetanen, ja peinlich zurückgehaltenen Schostakowitsch-Stücken gehören selbstredend auch drei Kantanten, die jetzt Paavo Jervi mit dem grandiosen Estonian Concert Choir und seinem Estonian National Symphony in einem dort kontrovers diskutierten Konzertmitschnitt von 2012 vorgelegt hat, nach welchem er in Estland sogar eine Zeitlang einen Bodyguard brauchte: „Die Hinrichtung des Stepan Rasin“ Op. 119, „Über unserem Vaterland scheint die Sonne“ Op. 90 und das berühmt-berüchtigte „Lied von den Wäldern“ Op. 91. Und nach der Verwunderung, dass sich nun ausgerechten die Exzellenzklangkörper eines der lange von den Sowjets unterdrückten baltischen Staaten mit aller Kraft und Können dieser für sie eigentlich hassenswerten Musik widmen, überwiegt neuerlich die seltsame Anziehungskraft dieser Musik.

Kein Zweifel, Dmitri Schostakowitsch, den der Dirigent noch als kleiner Junge in Tallinn kennen lernte, bevor er mit seiner Familie eben auch aus politischen Gründen nach Amerika auswanderte, weiß eben, wie man Massen manipuliert, wie man mit Musik mitreißt, diese in den Dienst einer Sache stellt. So versuchte er im Oratorium „Das Lied von den Wäldern“ (1949), das eine nationale Aufforstungskampagne zum Thema hat und im Poem „Über unserem Vaterland scheint die Sonne“ (1952), öffentlich Reue nach seiner Ablehnung zu bekennen und Stalin zu glorifizieren. Das wirkt heute, besonders in der propagandistischen Urfassung, seltsam affirmativ, und doch meint man in den wenigen stillen Moment dieser bewusst simpel gehaltenen, auf Überwältigung abzielenden Werke, eine depressive Verdüsterung, ja beinahe Ekel an der tönenden Pflichterfüllung herauszuhören.

Noch mehr gilt das für die depressive, dunkel melancholische Kantate „Die Hinrichtung des Stepan Rasin“ von 1964 – nach Stalins Tod ein ambivalenter Stoff um einen russischen Rebellen des 17. Jahrhunderts. Hier offenbar sich eine Musiksprache voll beißendem Spott und Verzweiflung unter einer brüchigen Schicht von Konformismus, die Grausamkeiten der Vergangenheit werden durchaus hellsichtig neben die Untaten der damaligen gegenwartgestellt. Eine im Grunde lebensgefährliche Haltung, die Schostakowitsch dank seiner Meisterschaft immer wieder einnehmen konnte, weil man seine Musik eben auf zwei Ebenen lesen muss. Und Paavo Jervi bringt es in jeder Note fertig, diesen Druck, die Angst und auch die Unterwerfung eines der bedeutendsten Komponisten der Moderne hör- und spürbar zu machen. Und dass nicht nur, weil sich in den drei Jahren seit der Aufnahme die Haltung des neuen Russland wieder sehr der Kalten-Kriegs-Sowjetzeit angenähert hat.

Dmitri Schostakowitsch: Kantaten. Estonian Concert Choir, Estonian National Symphony Orchestra, Paavo Järvi (Erato)




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