Ohrenschmaus und Routine bei Paavo Järvi
morgenpost.de
Felix Stephan
Felix Stephan
24.01.2018
Nein, es ist kein Druckfehler. Paavo Järvi dirigiert tatsächlich Sibelius und Schostakowitsch in der Philharmonie – und zwar dieselben Werke, die er dreieinhalb Monate später auch mit den Berliner Philharmonikern präsentieren wird: Sibelius' Violinkonzert und Schostakowitschs Sechste Sinfonie. Repertoiredopplungen am selben Ort also, die von Konzertveranstaltern normalerweise vermieden werden. Doch im Fall von Järvi liegen die Dinge anders. Gerade ist er nämlich zum ersten Mal mit seinem Estnischen Festivalorchester auf Europatournee, pünktlich zum 100. Jubiläum der Unabhängigkeit Estlands. Järvis Idee hinter diesem Ensemble: estnische Musiker mit erfahrenen Orchestermitgliedern aus aller Welt zusammenzubringen, Freundschaften anzubahnen – und nicht zuletzt das intensive Musik-Erlebnis jenseits der üblichen Orchesterroutine zu ermöglichen.
Dass sich bei Sibelius' Violinkonzert in der ersten Konzerthälfte dann doch ein Gefühl von Routine einschleicht, hat kaum mit den Orchestermusikern zu tun, sondern eher mit der Solistin Viktoria Mullova. Denn man hört es ziemlich deutlich: Die 58-jährige Russin hat dieses Sibelius-Konzert schon sehr häufig gespielt. So häufig, dass sie die Partitur phasenweise abzurufen scheint, anstatt sie noch einmal neu zu durchleben. Andererseits: Wie streng und gefasst Mullova dieser spätromantisch schwelgenden Musik entgegentritt, hat durchaus etwas Faszinierendes. Es ist ein Geigenspiel, das von reifer Erfahrung kündet, aber auch von Alter und Einsamkeit. Und Järvi? Er lässt behutsam begleiten, kommt Mullova mit seinen moderaten Tempi hörbar entgegen.
Sehr viel frischer und tatkräftiger wirkt das Orchester dann in der zweiten Hälfte bei Schostakowitschs Sechster Sinfonie. Ein seltsames Werk aus dem Jahre 1939, das ebenso ungewohnt anfängt wie es aufhört: Da ist zunächst ein langer langsamer Satz, der teilweise an Mahler und Sibelius erinnert. Gefolgt von zwei kurzen Sätzen im Allegro und Presto mit spritzigem Kehraus-Charakter. Man könnte diese Sinfonie politisch deuten, doch darum geht es Järvi an diesem Abend nicht. Genuss und Spielfreude stehen bei seiner Interpretation an erster Stelle. So wirkt das Lamento-Largo zu Beginn geradezu zielstrebig expressiv, inklusive exzellent vorbereiteter Bläser-Soli – ein wahrer Ohrenschmaus.
https://www.morgenpost.de/kultur/article213206797/Ohrenschmaus-und-Routine-bei-Paavo-Jaervi.html
Nein, es ist kein Druckfehler. Paavo Järvi dirigiert tatsächlich Sibelius und Schostakowitsch in der Philharmonie – und zwar dieselben Werke, die er dreieinhalb Monate später auch mit den Berliner Philharmonikern präsentieren wird: Sibelius' Violinkonzert und Schostakowitschs Sechste Sinfonie. Repertoiredopplungen am selben Ort also, die von Konzertveranstaltern normalerweise vermieden werden. Doch im Fall von Järvi liegen die Dinge anders. Gerade ist er nämlich zum ersten Mal mit seinem Estnischen Festivalorchester auf Europatournee, pünktlich zum 100. Jubiläum der Unabhängigkeit Estlands. Järvis Idee hinter diesem Ensemble: estnische Musiker mit erfahrenen Orchestermitgliedern aus aller Welt zusammenzubringen, Freundschaften anzubahnen – und nicht zuletzt das intensive Musik-Erlebnis jenseits der üblichen Orchesterroutine zu ermöglichen.
Dass sich bei Sibelius' Violinkonzert in der ersten Konzerthälfte dann doch ein Gefühl von Routine einschleicht, hat kaum mit den Orchestermusikern zu tun, sondern eher mit der Solistin Viktoria Mullova. Denn man hört es ziemlich deutlich: Die 58-jährige Russin hat dieses Sibelius-Konzert schon sehr häufig gespielt. So häufig, dass sie die Partitur phasenweise abzurufen scheint, anstatt sie noch einmal neu zu durchleben. Andererseits: Wie streng und gefasst Mullova dieser spätromantisch schwelgenden Musik entgegentritt, hat durchaus etwas Faszinierendes. Es ist ein Geigenspiel, das von reifer Erfahrung kündet, aber auch von Alter und Einsamkeit. Und Järvi? Er lässt behutsam begleiten, kommt Mullova mit seinen moderaten Tempi hörbar entgegen.
Sehr viel frischer und tatkräftiger wirkt das Orchester dann in der zweiten Hälfte bei Schostakowitschs Sechster Sinfonie. Ein seltsames Werk aus dem Jahre 1939, das ebenso ungewohnt anfängt wie es aufhört: Da ist zunächst ein langer langsamer Satz, der teilweise an Mahler und Sibelius erinnert. Gefolgt von zwei kurzen Sätzen im Allegro und Presto mit spritzigem Kehraus-Charakter. Man könnte diese Sinfonie politisch deuten, doch darum geht es Järvi an diesem Abend nicht. Genuss und Spielfreude stehen bei seiner Interpretation an erster Stelle. So wirkt das Lamento-Largo zu Beginn geradezu zielstrebig expressiv, inklusive exzellent vorbereiteter Bläser-Soli – ein wahrer Ohrenschmaus.
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