Mit Paavo Järvi kann Zürich etwas erleben

nzz.ch
Christian Berzins
6.01.2018

Der zukünftige Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich ist trotz seinem baltischen Pokerface eine schillernde Figur. Wer Paavo Järvi in seiner Heimat beobachtet, erlebt viele Überraschungen.




Zürich kann etwas erleben. Wer drei Sommertage lang in Estland Paavo Järvi auf dem Fuss ist, staunt viel - und erbleicht bisweilen. Etwa am Abend des 13. August 2017. Da tritt der zukünftige Chefdirigent des Zürcher Tonhalle-Orchesters in Pärnu um 20 Uhr aufs Podium und verlässt dieses erst nach 3 Stunden 25 Minuten wieder. Beschenkt mit Standing Ovations.

Zugegeben, die Pausen dauern am Pärnu Festival etwas länger als anderswo, obwohl die kristallenen Cognacgläser jeweils schon gefüllt auf dem Tresen bereitstehen. Aber jedes Tortenstück will liebevoll auf den Teller placiert und jedes Bier sorgfältig eingeschenkt sein. Und warum nicht noch etwas mit dem Pausengast über die Theke hinweg plaudern? Besorgt ist deswegen niemand, im Schlangenstehen übertrumpfen die Esten die Briten spielend. Paavo Järvi verkörpert diese Gelassenheit abseits des Podiums wie kein Zweiter.

Auch nach dem Konzert, wenn die Musiker ins «Passion Kaffee» drängen, steht man fürs Bier erneut 20 Minuten lang an. Niemanden stört das. Bereits am Nachmittag hatte der Dirigent und Festivalchef Paavo Järvi lachend gewarnt: «Ich verspreche Ihnen: Der Wein im ‹Passion› ist schlecht, das Essen noch schlimmer, aber die Stimmung ist grossartig!»

Gegen 1 Uhr steht er tatsächlich auf der Strasse vor dem Kaffee, plaudert da und dort - und das offensichtlich nicht als Alibiübung für fünf Minuten, wie andere Chefdirigenten das tun, ehe sie in einem Luxusrestaurant verschwinden. Gut möglich, dass es Järvi war, der am Schluss das Licht löschte. Nach kurzer Nacht beginnt Schlag 10 Uhr die Orchesterprobe. «So geht Festival!», sagt der 55-jährige Järvi danach lachend. «Wir schaffen uns hier unsere eigenen Regeln. Das ist eine Sache für Fanatiker und Enthusiasten, hier ist keiner, um Geld zu machen.»



Die Frage, warum diese Musiker von weither kommen und im Festspielorchester mittun, beantworten alle gleich: «Wegen Paavo!» Von «den Sommer opfern» will niemand etwas hören: «Für Paavo mache ich das noch so gerne, mit ihm zu arbeiten, ist ein Vergnügen», so der Bratscher Georg Katsouris, der Järvi beim Hessischen Rundfunkorchester kennen und schätzen lernte.

Und wer sich bei dieser Aussage erinnert fühlt an die Sätze, die einst in Luzern ausgesprochen wurden, als dort der abgöttisch verehrte Claudio Abbado das Festspielorchester leitete, zieht eine richtige Parallele. Selbst die «Zeit» verglich die beiden Orchester miteinander. Das System ist dasselbe. Auch wenn im verschlafenen Holzhaus-Städtchen Pärnu alles auf kleinerer Flamme gekocht wird: Das Feuer ist genauso heiss. «Paavo ist eine Leitfigur geworden. Eine Rolle, deren er sich aber vielleicht noch gar nicht bewusst ist», sagt Katsouris.

Drei Typen Järvi sieht man am Festival: Zum Konzert der Dirigierstudenten kommt er im modischen dunkelblauen Anzug, den zweiten Knopf des schneeweissen Hemdes offen; zur eigenen Probe in Festival-T-Shirt, Turnschuhen und Jeans; und zu seinem Abend als Maestro in einer Art Frack ohne Fliege. Doch ob Turn- oder Lackschuh: Dieser Mann, den man optisch mit Vladimir Putin verwechseln könnte, wirkt immer entschlossen. Als beim Open Air im lettischen Jurmala jemand zu früh applaudiert, wehrt er sich verärgert mit energischer Geste dagegen, gibt aber am Schluss jovial das Zeichen zum Applaus.

Mit Järvi wurde jedes Orchester besser

Da kommt 2019 ein Dirigent nach Zürich, den der Duft der grossen Welt umgibt. Selbstbewusst sagte Järvi, dass jedes Orchester, das er als Chefdirigent leitete, besser wurde, egal, ob in Bremen, Cincinnati, Frankfurt, Paris oder Tokio. Hiesse denn ein besseres Tonhalle-Orchester, dass es so gut wie das Concertgebouw-Orchester Amsterdam werden könnte? «Ich würde nicht sagen, genauso gut, aber genauso bekannt», präzisiert er.

Und nachgefragt, ob denn die Zürcher dereinst unter den Top Ten der bekanntesten Orchester figurieren könnten, sagt er trocken: «Sie werden - das ist gar keine Frage. Das ist das Ziel. Wir haben eine Vision. Wir müssen gross denken - und langfristig. Es geht nicht nur ums Spielen, sondern auch ums Präsentieren.» Viele Orchester würden gut spielen und doch nehme keiner Notiz von ihnen.

Mit dem estnischen Festspielorchester zeigt er vor, wie seine Vorwärtsstrategie funktioniert. Dank seinem Namen tritt die acht Jahre junge Formation auf Tournee bereits in Berlin auf und spielt CD ein. «Die Mittel sind viel kleiner als unsere Ambitionen. Aber haben Sie gehört, wie das Orchester klingt? Besser als viele mit grossen Namen.» Man kann nur zustimmen.

Doch da drängt sich auch die Frage auf, ob es eine politische Geste war, 2009 dieses Festival in Estland zu gründen. Und Järvi bejaht, ohne zu zögern, um sofort zu präzisieren: «Sie fragen bestimmt, ob dieses Festival gegen Russland gerichtet ist. Da muss ich antworten: Ich war nie ‹gegen Russland›.» Dieser Antagonismus zwischen den USA, Europa und Russland, den man mit der Perestroika überwunden zu haben schien, sei schrecklich. Für Musiker in Russland sei es wie zur Sowjetzeit.

Zurückkommend auf Estland, sagt Järvi, dass man die Souveränität eines Staates und die Kultur eines Volkes bewahren müsse, aber bewahren bedeute nicht nur, gegen etwas zu sein, sondern auch, etwas zu etablieren. «Ich würde mich enorm freuen, wenn ein Fremder, nach seinem ersten Eindruck von Estland gefragt, antworten würde: ‹Musikland›, ‹Arvo Pärt› oder ‹Pärnu Festival›. Das wäre besser, als wenn er sagt: ‹Die Hotels und das Bier sind billig.› Ich möchte, dass wir eine Kulturnation sind.»

Das Baltische im Blut

Järvi sieht man das Baltische genauso gut an wie einer estnischen Birke, die am Rand der märchenhaften Dünen steht. Er ist stolz auf sein Land und sein Festival, gemahnt aber an die Zeit vor 25 Jahren. «Heute scheint alles in Ordnung zu sein. Aber 1990 war hier alles zerstört: die schmucken Holzhäuser, die breiten Strassen und sogar die Mentalität der Menschen. Das war das Resultat des Sowjetsystems. Deswegen wollte ich hier etwas Neues schaffen und dem Land etwas zurückgeben.» Lächelnd gibt er zu, dass auch etwas Egoismus dahinter steckt, galt es doch einen Ort zu finden, wo sich die Grossfamilie Järvi treffen kann: rund 25 Musiker. «Jeder kann hierhinkommen.»

Und da sitzt tatsächlich die Schwester hinten links im Orchester, die Kinder tollen in der Pause im Foyer umher, und Papa Neeme, der grosse Dirigent, der von 2012 bis 2015 in Genf beim Orchestre de la Suisse Romande herrschte, wird von den Festivalbesuchern geradezu als Nationalheiliger verehrt. 1981 durfte die Familie aus der Sowjetunion in die USA emigrieren, die Järvis wurden amerikanische Bürger. Als Estland befreit war, beantragte Paavo Järvi den estnischen Pass, die Steuerresidenz blieb Palm Beach, Florida, das Berufsleben spielte sich grösstenteils in Europa und Asien ab, und London wurde sein Lebenszentrum.

Bald wird auch Zürich zu diesem Puzzle gehören, dessen Orchester er schon viele Jahre verfolgt. «Ich wusste immer, dass es ein gutes Orchester ist, aber als ich im Januar mit dem Orchester Schumann spielte, war ich überrascht, wie fähig diese Musiker waren, feinste Temponuancierungen zu gestalten.» Järvi ist ein Dirigent, der sich darum kümmert, ob alles richtig ist, in den Proben ist er unerbittlich. «Mit den Zürchern ging es nicht darum, ob dieses recht oder jenes falsch sei, ob jenes zusammengespielt war oder nicht - das ist wichtig, klar, aber noch lange nicht alles: Diese Musiker wollten etwas anderes finden, sie wollten zum Kern. Man muss in der Musik eine innere Welt finden. Das war cool! Wir konnten Musik machen, ohne Akademismus. Das Fundament ist sehr stark.»

Zürich ist die perfekte Musikstadt

Der ehrgeizige Järvi weiss, dass in Zürich viel zu erreichen ist. «Es gibt wenige Orte in der Welt, wo es eine so perfekte Kombination gibt: ab 2020 einen grossartigen Saal kombiniert mit einem tollen Orchester mit einem starken Namen.» «Tonhalle» reiht er ein in die Reihe Gewandhaus Leipzig und Concertgebouw Amsterdam und betont, dass man in Zürich auch noch im Zentrum von Europa sei. «In Zürich gibt es alle Grundsteine des Erfolgs. Ich sage nicht, es war nicht gut vorher, man kennt das Orchester, aber wir gehen nun daran, das Gesamtbild zu restaurieren. Das Wichtigste ist, dass wir uns im Musikalischen verstehen. Wenn das klappt, wird alles andere klappen, wenn nicht, wird alle PR nichts nützen. Ich komme nicht mit dem Slogan ‹Make the Tonhalle great again› - es wird ein Entwicklung geben, ich will an einer Tradition bauen.»

Aber Vorsicht: Da kommt ein Musiker, kein Hampelmann. Und schon gar keine Marionette. Järvi wird nicht im Handstand durch die Stadt spazieren und Werbung verteilen. Das müssen andere für ihn tun. Im Vergleich zu einem Simon Rattle sei Järvi ein zurückhaltender, ja konservativer Mensch, sagen seine Freunde. Järvi brauche ein Team, eine starke Kommunikationsabteilung. Er sei nicht der Typ, der mit grossen Innovationen komme, Orchester-Projekte mit einem DJ wie einst in Frankfurt hin oder her. Er spricht auch kein Deutsch, obwohl er jahrelang mit deutschen Orchestern gearbeitet hat.

Zurück zur Party! Bereits um 1 Uhr verlässt eine seiner japanischen Musikmanagerinnen das Fest mit der Begründung, dass es am nächsten Abend bestimmt noch später werden würde. Und dann fragt sie, die Wünsche ihres Dirigenten im Hinterkopf: «Haben Sie in Zürich Lokale, die um Mitternacht noch offen sind?»

Konzert: 20. 1. 2018, 18.30 Uhr, Tonhalle Maag. Estonian Festival Orchestra / Järvi / Mullova. Pärt, Sibelius und Schostakowitsch.


Paavo Järvi: Estnischer Weltenbürger

Paavo Järvi wurde 1962 im estnischen Tallinn geboren. 1980 reiste er mit der gesamten Familie in die USA. Dort beendete er das Studium. Die Karriere führte über Stockholm und Cincinnati nach Bremen, wo er mit der Deutschen Kammerphilharmonie für Furore sorgte. Bald wurde er Chefdirigent beim hr-Sinfonieorchester in Frankfurt, beim Orchestre de Paris und beim NHK Symphony Orchestra in Tokio. Ab 2019 ist er Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Tohalle-Orchesters Zürich. Er hat zahlreiche CD eingespielt, vor kurzem die 6. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch (Alpha 2017).

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