Seeluft macht tatendurstig
tagesspiegel.de
Frederik Hanssen
17.01.2018
Alles begann mit einem Saunahäuschen an der Küste, das sich Neeme Järvi Anfang der Sechzigerjahre unweit des Kurorts Pärnu baute. Damals war er gerade Chefdirigent des estnischen Rundfunkorchesters in Tallin geworden. Nur 90 Minuten dauert die Fahrt von dort nach Pärnu, wo eine geschützte Bucht zum Baden einlädt, wo es lange Strände gibt und sich Lärchen- und Kiefernwälder hinter den Dünen ausbreiten. Seit 1838 kommen Touristen hierher.
Je größer die Familie des Dirigenten wurde, desto mehr wuchs auch das Häuschen, Zimmer um Zimmer. „Für uns waren die Sommerferien an der Ostsee stets eine herrliche unbeschwerte Zeit“, erinnert sich das älteste der drei Järvi-Kinder, Paavo, mittlerweile selber 55 Jahre alt. Als die Familie 1980 in die USA emigriert, sind alle davon überzeugt, dass sie die Idylle von Pärnu niemals wiedersehen werden.
Schon zehn Jahre später aber zerbricht die Sowjetunion – und Paavo Järvi kehrt bald als gemachter Mann zurück. Nicht um Urlaub zu machen, sondern auf einer Tournee mit dem Orchester aus dem schwedischen Malmö, dessen künstlerischer Leiter er ist. Bald etabliert Vater Neeme einen sommerlichen Meisterkurs für angehende Dirigenten in Pärnu, 2002 baut die Stadt den Järvis sogar einen 900-Plätze-Konzertsaal, der zum Herzstück des sommerlichen Pärnu Music Festivals wird. Seit 2011 trommelt Paavo hier jedes Jahr seine liebsten Musikerfreunde zusammen: „So ein Orchesterjob kann mit der Zeit in Routine münden. Aber es gibt eben auch einige Musiker, die ihren Enthusiasmus nie verlieren. Diese Leute will ich im Estonian Festival Orchestra zusammenbringen.“
Aus allen Ensembles, bei denen Paavo Järvi Chef war oder noch ist, kommen Musiker nach Pärnu, von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, vom Orchester des Hessischen Rundfunks, vom Orchestre de Paris, ja sogar von der Tonhalle Zürich, die Järvi erst 2019 übernimmt.
Neben den Profis sitzen immer auch junge Instrumentalisten aus Estland. Paavo Järvi lädt sie persönlich ein, um ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, „Spitzenmusiker aus dem Westen“ kennenzulernen. Zusätzlich zum künstlerischen Gemeinschaftserlebnis ergeben sich dabei idealerweise auch wertvolle berufliche Kontakte, die beim Aufbau einer Karriere helfen. Außerdem sind stets mehrere Mitglieder des weitverzweigten Järvi-Clans dabei, darunter auch Paavos Schwester Maarika Järvi, eine Flötistin.
„Die zehn Tage in Pärnu gehören zu meinen intensivsten Arbeitsphasen im Jahr“, sagt Järvi – und klingt dabei kein bisschen enttäuscht darüber, dass die Ferien für ihn hier mittlerweile flachfallen. „Auch wenn meine Tage während des Festivals von neun Uhr morgens bis spät nach Mitternacht dauern, genieße ich die Energie, die dann in der Luft liegt.“
In sechs intensiven Sommern sei das Estonian Festival Orchestra so zu einer echten Künstlerfamilie zusammengewachsen, schwärmt Järvi. Folgerichtig wagte er im vergangenen August den nächsten Schritt, führte die eingeschworene Gemeinschaft auf eine erste Gastspielreise durchs Baltikum, von Lettland über Finnland und Dänemark bis nach Schweden.
Jetzt folgt die nächste Tournee, mit sechs Stationen in Zentraleuropa, darunter auch Berlin, am kommenden Montag, den 22. Januar. Anlässlich des 100. Jahrestags der Unabhängigkeitserklärung unterstützt die estnische Regierung das Projektorchester, das ja von Anfang an nicht lokalpatriotisch, sondern gesamteuropäisch gedacht war.
„Auch wenn wir eine starke nationale Identität haben“, sagt Järvi, „ist da ebenso ein natürliches Gespür für die Kulturen der Nachbarländer, als logische Folge unserer historischen und geografischen Lage.“ Ohne damit gleich Politik machen zu wollen, hat der Dirigent für die Tournee Programme zusammengestellt, die beide Aspekte berücksichtigen: Da ist einerseits das Beste der estnischen Musik – in Berlin werden das zwei Stücke von Arvo Pärt sein, seine „Fratres“ für Orchester und Schlagwerk sowie sein „Cantus in memoriam Benjamin Britten“ für Streicher und Glocke. Und da sind andererseits Werke aus den Ländern rund um die Ostsee. In Berlin spielt Viktoria Mullova das Violinkonzert des Finnen Jean Sibelius, außerdem gibt es die sechste Sinfonie des Russen Dmitri Schostakowitsch.
Schostakowitsch übrigens machte selber gerne in Pärnu Urlaub. „Denn näher konnte man in der Sowjetunion nicht an den Westen herankommen.“ Als Zehnjähriger hat Paavo Järvi den Komponisten kennengelernt, im Sommer 1973 war das, zwei Jahre vor Schostakowitschs Tod. Wie intensiv sich der Dirigent mit dem Œuvre des verehrten Komponisten beschäftigt hat, ist jetzt auf der Debüt-CD des Estonian Festival Orchestra zu hören, die neben einer Streichorchesterfassung von Schostakowitschs 8. Streichquartett ebenjene Sechste bietet, die in Berlin zu hören sein wird.
Mit Dringlichkeit und Brillanz spielt das Orchester, tief vermag Järvi in diese Musik zu schauen. Der langsame Kopfsatz, ein ausgedehntes Largo, erzählt von Angst und Einsamkeit des Komponisten, von seinem Gefühl des Verlorenseins im Sowjetsystem. In den beiden schnellen Sätzen der Sinfonie legt Paavo Järvi anschließend die Mechanismen offen, mit denen Schostakowitsch scheinbar die Forderungen der auf lebensbejahenden Optimismus pochenden kommunistischen Kulturfunktionäre befriedigte – um sie in Wahrheit doch zu unterlaufen. Der plakativ energetische Kehraus entpuppt sich so als eine Musik, die auf der Flucht vor sich selber zu sein scheint.
http://www.tagesspiegel.de/kultur/paavo-jaervi-und-das-estonian-festival-orchestra-seeluft-macht-tatendurstig/20853208.html
Frederik Hanssen
17.01.2018
Zum ersten Mal gehen Paavo Järvi und das Estonian Festival Orchestra auf Europatournee. Am 22. Januar gastieren sie in der Berliner Philharmonie.
Alles begann mit einem Saunahäuschen an der Küste, das sich Neeme Järvi Anfang der Sechzigerjahre unweit des Kurorts Pärnu baute. Damals war er gerade Chefdirigent des estnischen Rundfunkorchesters in Tallin geworden. Nur 90 Minuten dauert die Fahrt von dort nach Pärnu, wo eine geschützte Bucht zum Baden einlädt, wo es lange Strände gibt und sich Lärchen- und Kiefernwälder hinter den Dünen ausbreiten. Seit 1838 kommen Touristen hierher.
Je größer die Familie des Dirigenten wurde, desto mehr wuchs auch das Häuschen, Zimmer um Zimmer. „Für uns waren die Sommerferien an der Ostsee stets eine herrliche unbeschwerte Zeit“, erinnert sich das älteste der drei Järvi-Kinder, Paavo, mittlerweile selber 55 Jahre alt. Als die Familie 1980 in die USA emigriert, sind alle davon überzeugt, dass sie die Idylle von Pärnu niemals wiedersehen werden.
Schon zehn Jahre später aber zerbricht die Sowjetunion – und Paavo Järvi kehrt bald als gemachter Mann zurück. Nicht um Urlaub zu machen, sondern auf einer Tournee mit dem Orchester aus dem schwedischen Malmö, dessen künstlerischer Leiter er ist. Bald etabliert Vater Neeme einen sommerlichen Meisterkurs für angehende Dirigenten in Pärnu, 2002 baut die Stadt den Järvis sogar einen 900-Plätze-Konzertsaal, der zum Herzstück des sommerlichen Pärnu Music Festivals wird. Seit 2011 trommelt Paavo hier jedes Jahr seine liebsten Musikerfreunde zusammen: „So ein Orchesterjob kann mit der Zeit in Routine münden. Aber es gibt eben auch einige Musiker, die ihren Enthusiasmus nie verlieren. Diese Leute will ich im Estonian Festival Orchestra zusammenbringen.“
Neben erfahrenen Profis sitzen junge Musiker
Aus allen Ensembles, bei denen Paavo Järvi Chef war oder noch ist, kommen Musiker nach Pärnu, von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, vom Orchester des Hessischen Rundfunks, vom Orchestre de Paris, ja sogar von der Tonhalle Zürich, die Järvi erst 2019 übernimmt.
Neben den Profis sitzen immer auch junge Instrumentalisten aus Estland. Paavo Järvi lädt sie persönlich ein, um ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, „Spitzenmusiker aus dem Westen“ kennenzulernen. Zusätzlich zum künstlerischen Gemeinschaftserlebnis ergeben sich dabei idealerweise auch wertvolle berufliche Kontakte, die beim Aufbau einer Karriere helfen. Außerdem sind stets mehrere Mitglieder des weitverzweigten Järvi-Clans dabei, darunter auch Paavos Schwester Maarika Järvi, eine Flötistin.
„Die zehn Tage in Pärnu gehören zu meinen intensivsten Arbeitsphasen im Jahr“, sagt Järvi – und klingt dabei kein bisschen enttäuscht darüber, dass die Ferien für ihn hier mittlerweile flachfallen. „Auch wenn meine Tage während des Festivals von neun Uhr morgens bis spät nach Mitternacht dauern, genieße ich die Energie, die dann in der Luft liegt.“
In sechs Sommern ist das Orchester zur Künstlerfamilie geworden
In sechs intensiven Sommern sei das Estonian Festival Orchestra so zu einer echten Künstlerfamilie zusammengewachsen, schwärmt Järvi. Folgerichtig wagte er im vergangenen August den nächsten Schritt, führte die eingeschworene Gemeinschaft auf eine erste Gastspielreise durchs Baltikum, von Lettland über Finnland und Dänemark bis nach Schweden.
Jetzt folgt die nächste Tournee, mit sechs Stationen in Zentraleuropa, darunter auch Berlin, am kommenden Montag, den 22. Januar. Anlässlich des 100. Jahrestags der Unabhängigkeitserklärung unterstützt die estnische Regierung das Projektorchester, das ja von Anfang an nicht lokalpatriotisch, sondern gesamteuropäisch gedacht war.
„Auch wenn wir eine starke nationale Identität haben“, sagt Järvi, „ist da ebenso ein natürliches Gespür für die Kulturen der Nachbarländer, als logische Folge unserer historischen und geografischen Lage.“ Ohne damit gleich Politik machen zu wollen, hat der Dirigent für die Tournee Programme zusammengestellt, die beide Aspekte berücksichtigen: Da ist einerseits das Beste der estnischen Musik – in Berlin werden das zwei Stücke von Arvo Pärt sein, seine „Fratres“ für Orchester und Schlagwerk sowie sein „Cantus in memoriam Benjamin Britten“ für Streicher und Glocke. Und da sind andererseits Werke aus den Ländern rund um die Ostsee. In Berlin spielt Viktoria Mullova das Violinkonzert des Finnen Jean Sibelius, außerdem gibt es die sechste Sinfonie des Russen Dmitri Schostakowitsch.
Schostakowitsch machte gerne Urlaub in Pärnu
Schostakowitsch übrigens machte selber gerne in Pärnu Urlaub. „Denn näher konnte man in der Sowjetunion nicht an den Westen herankommen.“ Als Zehnjähriger hat Paavo Järvi den Komponisten kennengelernt, im Sommer 1973 war das, zwei Jahre vor Schostakowitschs Tod. Wie intensiv sich der Dirigent mit dem Œuvre des verehrten Komponisten beschäftigt hat, ist jetzt auf der Debüt-CD des Estonian Festival Orchestra zu hören, die neben einer Streichorchesterfassung von Schostakowitschs 8. Streichquartett ebenjene Sechste bietet, die in Berlin zu hören sein wird.
Mit Dringlichkeit und Brillanz spielt das Orchester, tief vermag Järvi in diese Musik zu schauen. Der langsame Kopfsatz, ein ausgedehntes Largo, erzählt von Angst und Einsamkeit des Komponisten, von seinem Gefühl des Verlorenseins im Sowjetsystem. In den beiden schnellen Sätzen der Sinfonie legt Paavo Järvi anschließend die Mechanismen offen, mit denen Schostakowitsch scheinbar die Forderungen der auf lebensbejahenden Optimismus pochenden kommunistischen Kulturfunktionäre befriedigte – um sie in Wahrheit doch zu unterlaufen. Der plakativ energetische Kehraus entpuppt sich so als eine Musik, die auf der Flucht vor sich selber zu sein scheint.
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