Scharfe Brise für Schostakowitsch
spiegel.de
Werner Theurich
28.01.2018
Frisch weht der Wind an der Ostseeküste. Besonders inspirierend bläst er in diesem Jahr wieder rund um die estnische Hauptstadt Tallinn, wo der Dirigent Paavo Järvi geboren wurde und in deren Nähe er seine Festival-Zelte aufschlagen wird. Viel steht für Järvi 2018 auf dem Programm, aber ein wenig davon hat er schon unter Dach und Fach: Seine neue Einspielung der sechsten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) komprimiert Eleganz, Temperament und konzise Interpretation. Eben genau das, was die Musik des russischen Komponisten ausmacht.
Für Järvi kein Problem: Er kennt seinen Schostakowitsch und traf den Komponisten sogar 1973 noch als Kind. Für diese brandneue Einspielung stand ihm darüber hinaus ein Ensemble internationaler junger Talente zur Seite, die offenbar eine ähnlich innige Beziehung zu Schostakowitsch pflegen. Das von Järvi ins Leben gerufene Estonian Festival Orchestra gibt auf Anhieb eine beeindruckende musikalische Visitenkarte ab.
Als üppiges Werk plante es ursprünglich der Komponist, als festliche "Lenin-Symphonie" mit Gesangssolisten, Chor und einer Gedichtvertonung von Majakowski - Beethoven ließ grüßen. Doch das Gedicht erwies sich als zu sperrig für die Bearbeitung. Der Dirigent der Premiere, Jewgenij Mrawinski, strenger und unnachgiebiger Chef der Leningrader Symphoniker, führte dann als engagierter Antreiber effizient durch die abgespeckten drei Sätze, deren Zauber auch ohne Worte wirkt. Bis heute. Stets ein wenig im Schatten der berühmten "Siebenten" und der scheinbar kompromissgetragenen "Fünften", zeigt sich das vermeintlich kleine Werk hier in aller Pracht.
Das von Paavo Järvi begründete Musikfestival in der kleinen Stadt Pärnu vor den Toren Tallinns zieht jährlich eine Schar junger Musikerinnen und Musiker aus aller Welt an, die in einer kurzen Woche eine künstlerische Einheit formen und ein anspruchsvolles Konzertprogramm absolvieren.
So symbolisiert dieses Treffen freier kreativer Künstler alles das, wonach die Menschen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks strebten. Im Café "Passion", dem Hauptquartier des Festivals, wurde 1918 die Unabhängigkeitserklärung Estlands gedruckt: Keine Kunst ohne Geschichtsbewusstsein.
Mit Orchestern aus Individualisten kann der Pultstar von der Ostsee gut umgehen. Paavo Järvi, der den Norddeutschen und anderen kundigen Klassik-Fans bereits mit seinen Aktivitäten bei der Kammerphilharmonie Bremen bestens bekannt ist, wird demnächst ein weiteres renommiertes Ensemble übernehmen. Das Tonhalle-Orchester in Zürich hat den estnischen Maestro nach einer nicht ganz glücklichen Liaison mit dem jungen Dirigenten Lionel Bringuier engagiert und verspricht sich davon ab 2019 eine neue fruchtbare Ära. Järvis unvoreingenommene Vielseitigkeit wird dabei helfen.
In diesem Zusammenhang sei auf die kompetenten und informativen Liner Notes der CD hingewiesen, die Paavo Järvi mit Enthusiasmus und flotter Schreibe verfasst hat. Wie schön, dass man all diese Erläuterungen der Interpretation des Estonian Festival-Orchesters dann auch anhört.
Als engagierter Botschafter der estnischen und skandinavischen Kultur freute den Dirigenten besonders der frühe Grammy-Gewinn 2006 für seine Einspielung der Sibelius-Kantaten mit dem Estnischen National-Symphonieorchester. Viel wichtiger aber ist der Blick nach vorn. Zürich dürfte eine weitere fruchtbare Herausforderung sein, der Järvi wohl wie üblich lächelnd, aber kompromisslos im künstlerischen Anspruch begegnen wird.
http://www.spiegel.de/kultur/musik/paavo-jaervi-dirigiert-schostakowitsch-klassische-musik-a-1189756.html
Werner Theurich
28.01.2018
Die Symphonien von Schostakowitsch erfreuen sich großer Beliebtheit. Nun widmet sich Paavo Järvi den Werken des russischen Meisters. Aber das ist nur eine Facette des quirligen Musikers aus Estland.
Frisch weht der Wind an der Ostseeküste. Besonders inspirierend bläst er in diesem Jahr wieder rund um die estnische Hauptstadt Tallinn, wo der Dirigent Paavo Järvi geboren wurde und in deren Nähe er seine Festival-Zelte aufschlagen wird. Viel steht für Järvi 2018 auf dem Programm, aber ein wenig davon hat er schon unter Dach und Fach: Seine neue Einspielung der sechsten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) komprimiert Eleganz, Temperament und konzise Interpretation. Eben genau das, was die Musik des russischen Komponisten ausmacht.
Für Järvi kein Problem: Er kennt seinen Schostakowitsch und traf den Komponisten sogar 1973 noch als Kind. Für diese brandneue Einspielung stand ihm darüber hinaus ein Ensemble internationaler junger Talente zur Seite, die offenbar eine ähnlich innige Beziehung zu Schostakowitsch pflegen. Das von Järvi ins Leben gerufene Estonian Festival Orchestra gibt auf Anhieb eine beeindruckende musikalische Visitenkarte ab.
Das Presto kitzelt die Sinne
Weshalb der dritte Satz dieser Symphonie bei der Uraufführung 1939 in Leningrad vom Publikum als Dacapo gefordert wurde, spürt man auch in Paavo Järvis Deutung: Der sinnenkitzelnde Schwung des Prestos, der förmlich eine Sogwirkung auf das Publikum ausübt, gewinnt in der Interpretation des topmotivierten Estnischen Festival-Orchesters so viel an Profil und Klarheit, wie sie sich Schostakowitsch wohl vorgestellt haben mag.Als üppiges Werk plante es ursprünglich der Komponist, als festliche "Lenin-Symphonie" mit Gesangssolisten, Chor und einer Gedichtvertonung von Majakowski - Beethoven ließ grüßen. Doch das Gedicht erwies sich als zu sperrig für die Bearbeitung. Der Dirigent der Premiere, Jewgenij Mrawinski, strenger und unnachgiebiger Chef der Leningrader Symphoniker, führte dann als engagierter Antreiber effizient durch die abgespeckten drei Sätze, deren Zauber auch ohne Worte wirkt. Bis heute. Stets ein wenig im Schatten der berühmten "Siebenten" und der scheinbar kompromissgetragenen "Fünften", zeigt sich das vermeintlich kleine Werk hier in aller Pracht.
Keine Kunst ohne Geschichtsbewusstsein
Das von Paavo Järvi begründete Musikfestival in der kleinen Stadt Pärnu vor den Toren Tallinns zieht jährlich eine Schar junger Musikerinnen und Musiker aus aller Welt an, die in einer kurzen Woche eine künstlerische Einheit formen und ein anspruchsvolles Konzertprogramm absolvieren.So symbolisiert dieses Treffen freier kreativer Künstler alles das, wonach die Menschen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks strebten. Im Café "Passion", dem Hauptquartier des Festivals, wurde 1918 die Unabhängigkeitserklärung Estlands gedruckt: Keine Kunst ohne Geschichtsbewusstsein.
Mit Orchestern aus Individualisten kann der Pultstar von der Ostsee gut umgehen. Paavo Järvi, der den Norddeutschen und anderen kundigen Klassik-Fans bereits mit seinen Aktivitäten bei der Kammerphilharmonie Bremen bestens bekannt ist, wird demnächst ein weiteres renommiertes Ensemble übernehmen. Das Tonhalle-Orchester in Zürich hat den estnischen Maestro nach einer nicht ganz glücklichen Liaison mit dem jungen Dirigenten Lionel Bringuier engagiert und verspricht sich davon ab 2019 eine neue fruchtbare Ära. Järvis unvoreingenommene Vielseitigkeit wird dabei helfen.
Ab geht's zur Zürcher Tonhalle
Mit der halbstündigen, für Schostakowitschs Verhältnis knapp gehaltenen sechsten Symphonie kontrastiert auf der neuen CD effektvoll die "Sinfonietta" op. 110. Manchmal firmiert sie im Katalog auch als "Kammersinfonie". Die orchestrale Bearbeitung des Streichquartettes op. 8 von 1961 (gestaltet vom Schostawitsch-Freund Abram Stasewitsch) reflektiert den Rang, den die Streichquartette des Komponisten in seinem Werk einnehmen. Sie gehören heute zum Standardrepertoire jedes Kammerensembles.In diesem Zusammenhang sei auf die kompetenten und informativen Liner Notes der CD hingewiesen, die Paavo Järvi mit Enthusiasmus und flotter Schreibe verfasst hat. Wie schön, dass man all diese Erläuterungen der Interpretation des Estonian Festival-Orchesters dann auch anhört.
Als engagierter Botschafter der estnischen und skandinavischen Kultur freute den Dirigenten besonders der frühe Grammy-Gewinn 2006 für seine Einspielung der Sibelius-Kantaten mit dem Estnischen National-Symphonieorchester. Viel wichtiger aber ist der Blick nach vorn. Zürich dürfte eine weitere fruchtbare Herausforderung sein, der Järvi wohl wie üblich lächelnd, aber kompromisslos im künstlerischen Anspruch begegnen wird.
http://www.spiegel.de/kultur/musik/paavo-jaervi-dirigiert-schostakowitsch-klassische-musik-a-1189756.html
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