Mehr Härte wagen
tagesspiel.de
Christiane Peitz
24.01.2018
Der Klang wird zum Raum, gleich zu Beginn bei Arvo Pärts „Cantus in Memoriam Benjamin Britten“ und später bei den „Fratres“ in der Version für Streicher und Schlagzeug, berühmt als Soundtrack zahlreicher Filme. Paavo Järvi und sein Estonian Festival Orchestra – bestehend aus jungen estnischen Musikern und internationalen Profis – machen auf ihrer ersten Europatournee Station in Berlin und erobern die Philharmonie mit schierem Tonvolumen. Mit kräftigem Strich, einem gerade nicht esoterisch-vergeistigten, sondern handfesten Pärt und mit Crescendi, die sich bis in jeden Winkel des Scharoun-Baus ausdehnen.
Fast zu viel Klanggewalt fürchtet man da für Sibelius’ d–Moll-Violinkonzert, aber Solistin Viktoria Mullova legt ihrerseits Verve an den Tag, meistert die Tücken der hochvirtuosen Partie, treibt sie ins Manische und versteht es umgekehrt, auch mal mit nur einem Bogenstrich den gesamten Saal klanglich zu füllen. Ein kantiger, muskulöser, zugleich glutvoller Sibelius, nicht ohne Härten. Manchmal wünschte man sich mehr Innehalten, mehr Momente der lyrischen Intensität. Der von Akzenten durchsetzte Geschwindmarsch wird zum Auftritt einer Gespensterarmee, mit jäh auffahrenden Figuren am Ende. Darauf, vor der Pause, als Zugabe gleich noch einen Pärt.
Manchmal vermisst man den radikal individuellen Ton
Der eherne Zugriff mit Järvi als unerbittlichem Derwisch am Pult, der die Klangmassen mit hochpräziser Rhythmik bezwingt, kommt nach der Pause Dmitri Schostakowitschs 6. Sinfonie insgesamt gut zupass. Dem verzerrten Mahler-Beginn des Kopfsatzes, der alsbald in die Katastrophe mündet, genauso wie der Auflösung in aquarellfarbene Pärt’sche Akkordflächen am Ende des Largos oder dem aggressiven Kehraus im Presto-Finale. Schostakowitschs berühmtes Changieren zwischen schriller Verzweiflung und herrischem Befehlston, Disziplin und Dissidenz, Stalin’schem Terror und künstlerischer Selbstverleugnung machen die Musiker des Projektorchesters ungemein sinnfällig. Auch wenn man hier ebenfalls manchmal den radikal individuellen Ton vermisst, den Mut, auf verlorenem Holzbläsersolo-Posten der Allgewalt der Tutti-Attacken zu trotzen.
Jubel im Saal. Und gleich noch ein estnisches Filmmusik-Schmankerl, Lepo Sumeras „Frühlingsfliegen“-Walzer.
Christiane Peitz
24.01.2018
Paavo Järvi und sein Estonian Festival Orchestra machen Halt in der Philharmonie. Und begeistern mit Stücken von Sibelius, Schostakowitsch und Mahler.
Der Klang wird zum Raum, gleich zu Beginn bei Arvo Pärts „Cantus in Memoriam Benjamin Britten“ und später bei den „Fratres“ in der Version für Streicher und Schlagzeug, berühmt als Soundtrack zahlreicher Filme. Paavo Järvi und sein Estonian Festival Orchestra – bestehend aus jungen estnischen Musikern und internationalen Profis – machen auf ihrer ersten Europatournee Station in Berlin und erobern die Philharmonie mit schierem Tonvolumen. Mit kräftigem Strich, einem gerade nicht esoterisch-vergeistigten, sondern handfesten Pärt und mit Crescendi, die sich bis in jeden Winkel des Scharoun-Baus ausdehnen.
Fast zu viel Klanggewalt fürchtet man da für Sibelius’ d–Moll-Violinkonzert, aber Solistin Viktoria Mullova legt ihrerseits Verve an den Tag, meistert die Tücken der hochvirtuosen Partie, treibt sie ins Manische und versteht es umgekehrt, auch mal mit nur einem Bogenstrich den gesamten Saal klanglich zu füllen. Ein kantiger, muskulöser, zugleich glutvoller Sibelius, nicht ohne Härten. Manchmal wünschte man sich mehr Innehalten, mehr Momente der lyrischen Intensität. Der von Akzenten durchsetzte Geschwindmarsch wird zum Auftritt einer Gespensterarmee, mit jäh auffahrenden Figuren am Ende. Darauf, vor der Pause, als Zugabe gleich noch einen Pärt.
Manchmal vermisst man den radikal individuellen Ton
Der eherne Zugriff mit Järvi als unerbittlichem Derwisch am Pult, der die Klangmassen mit hochpräziser Rhythmik bezwingt, kommt nach der Pause Dmitri Schostakowitschs 6. Sinfonie insgesamt gut zupass. Dem verzerrten Mahler-Beginn des Kopfsatzes, der alsbald in die Katastrophe mündet, genauso wie der Auflösung in aquarellfarbene Pärt’sche Akkordflächen am Ende des Largos oder dem aggressiven Kehraus im Presto-Finale. Schostakowitschs berühmtes Changieren zwischen schriller Verzweiflung und herrischem Befehlston, Disziplin und Dissidenz, Stalin’schem Terror und künstlerischer Selbstverleugnung machen die Musiker des Projektorchesters ungemein sinnfällig. Auch wenn man hier ebenfalls manchmal den radikal individuellen Ton vermisst, den Mut, auf verlorenem Holzbläsersolo-Posten der Allgewalt der Tutti-Attacken zu trotzen.
Jubel im Saal. Und gleich noch ein estnisches Filmmusik-Schmankerl, Lepo Sumeras „Frühlingsfliegen“-Walzer.
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