Das Orchester und die einsame Seele
RoccoSound
Herbert Büttiker
14.09.2022
Mit der Uraufführung einer schillernd komplexen Auftragskomposition und einer der monumentalsten Werke der sinfonischen Literatur startet das Tonhalle-Orchester energie- und glanzvoll in die neue Saison.
Anton Bruckners sinfonisches Schaffen gehört nicht zum populärsten, sicher aber zum bedeutendsten, was die europäische Musik hervorgebracht hatte. Ihre weltweite Ausstrahlung weckte auch den jungen Toshio Hosokawa, der in Hiroschima mit westlicher Musik zum Komponisten wurde, und erst mit dem Studium in Berlin und mit der zeitgenössischen Musik in Deutschland die alten Traditionen seiner Heimat entdeckte. Heute gehört er zu den Grossen der neuen Musik, und er sucht «nach einer neuen Form spiritueller Kultur und Musik des japanischen Volkes», oder, wie er auch sagt, nach der «japanischen Seele, die wir verloren haben». Ausgangspunkt sind für Hosokawa die schamanischen Wurzeln dieser Kultur: «Alle Klänge kommen aus dem Atem» – die Flöte ist eines seiner Lieblingsintrumente. Was der Titel des für die Tonhalle und seinen Fokuskünstler dieser Saison, Emanuel Pahud, geschriebene Werk mit dem Titel «Ceremony» ankündigt, ist ein Flötenkonzert in fünf Teilen mit dem Solisten als Schamanen.
Der Flötist als Schamane
Pahud wechselt zwischen Querflöte, Altflöte und Piccolo, Atemgeräusche, ruhige und auch explosive verweben sich mit einem farbigen Klanggeschehen zu Beginn; im dritten Teil – «Ein Ringen, ein Kampf gegen die reale Welt» – beherrschen Aufruhr und vehemente Einsätze das Feld; im vierten Teil – «Kadenza» – erhält das asiatische Idiom im Solospiel des Flötisten Raum, und zum Zug kommt auch spielerische Artistik. Der fünfte Teil – «Das letzte Kapitel. Läuterung» – lässt den Schamanen mit Vogelrufen in die Natur eingehen und mündet in einen ruhigen Ausklang, in dem leise Glockenklänge Tempelatmosphäre zu evozieren scheinen. Ob wir in den zwanzig Minuten einen Schamanen begleitet haben oder nicht doch eher «nur» den mit allen Wassern gewaschenen, souveränen Solisten einer hoch differenzierten und virtuosen zeitgenössischen Partitur, mag unterschiedlich beantwortet werden. So oder so aber gab es grossen Applaus für Emmanuel Pahud, den Komponisten und das von Paavo Järvi geleitete Orchester.
Die göttliche Kreatur
Seine letzte, die Neunte, soll Anton Bruckner der Überlieferung nach dem lieben Gott gewidmet haben. Die transzendierende Kraft ist seinen Sinfonien eingeschrieben, sie gelten als «Klangkathedralen» und ihr Schöpfer als mönchisch weltfremdes Genie. Dass dies nicht die ganze Wahrheit ist, macht gerade die Achte besonders deutlich. Das «monumentale Werke», das in diesem Konzert auf die schamanische Zeremonie folgte, ist nicht der spirituellen Majestät, sondern dem Kaiser gewidmet, und die «reale Welt» ist ihr mit besonderer Wucht eingeschrieben. Angst, Verlorenheit bis hin zur Beklommenheit der «Totenuhr» im verlöschenden Ausklang des 1. Satzes und im Gegenzug Festlichkeit mit Harfenglitzer gehören zu dieser c-Moll-Sinfonie, dazu dämonische Energie im Scherzo und tiefe Innigkeit im Adagio, man könnte sagen die «abendländische Seele», die göttliche Kreatur.
Die gute Architektur
Der Anfang im verhaltenen pp – das «Tremolo» (Zittern!) gedeckt durch die Hörner, das Thema nicht eben hoch schnellend gespielt – liess ahnen, dass Järvi in dieser Musik nicht so sehr dieses Subjektive sucht, sondern sich darauf richtet, wie er sagt, «eine gute Architektur zu haben, die die Qualität des Orchesters und der einzelnen Register wirklich zeigt». Und dies war denn auch das Erlebnis dieser Aufführung von straffer, aber luxuriöser Klanglichkeit der Register, plastisch aufgefächert alles in der grossen Besetzung, das Gold der Tuben und Hörnern auf der einen, die Wucht von Trompeten und Posaunen auf der anderen Seite und die Pauken als subtiles und auftrumpfendes Soloinstrument in der Mitte – und vor ihnen aller Zauber solistischer Bläser oder etwa des Flötenterzetts, im Tutti Aufgipfelungen, die auch an Grenzen auflaufen konnten, aber mit dem BeckenschlagHöhepunkt des Adagios auch die Entgrenzung erschauernd Wirklichkeit werden liessen.
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