Musikalische Utopie
Kölner Stadt-Anzeiger
Mit zwei Konzerten der Kammerphilharmonie Bremen und ihrem Dirigenten Paavo Järvi feierte das Bonner Beethovenfest einen furiosen Auftakt. Die Leistung war in jeder Hinsicht superior - mit lediglich einigen kleinen Schönheitsfehlern.
Das Trompetensignal in der Durchführung von Beethovens dritter Leonorenouvertüre ist Klang gewordene Utopie - es bezieht sich auf die Peripetie der Oper „Fidelio“, wo es die Ankunft des Ministers, die Befreiung Florestans und das Ende von Pizarros Herrschaft bedeutet.
Ernst Bloch, der Denker der Utopie, pflegte bei dieser Stelle stets in Tränen auszubrechen. Beim zweiten Konzert des diesjährigen Bonner Beethovenfestes in der Beethovenhalle begab es sich nun, dass während des Trompetensignals laut und beharrlich als Kontrapunkt ein Handy-Klingelton vernommen wurde. Das war einerseits extrem störend, konnte aber andererseits aber auch Überlegungen zum Gestaltwandel von Utopie in Gang setzen - die gute, die erlösende Nachricht, so es sie noch gibt, wird heutzutage halt per Handy mitgeteilt.
Solchermaßen wächst dem programmatischen Schwerpunkt des aktuellen Festes, eben der Utopie, sozusagen aufführungspraktisch noch eine geschichtsphilosophische Tiefenschärfe zu. Handgreiflicher zeigte sich das utopische Potenzial von Musik in der Ansprache des Schirmherrn und venezolanischen Musikmanagers José Antonio Abreu zum Eröffnungskonzert: Abreu ist der legendäre Gründer von „El Sistema“, jener breiten sozialkulturellen Bewegung, die Kinder vorzugsweise aus den Elendsvierteln des Landes durch intensive musikalische Förderung in Orchestern und Chören die Perspektive auf ein besseres Leben eröffnet. Klarinette statt Knarre - hier bekommt Schillers Utopie der ästhetischen Erziehung des Menschen eine ungeahnte Relevanz.
Ein vor Energie berstender Grundklang„U-topia“ heißt ja bekanntlich „Nicht-Ort“ - was so viel bedeutet, dass sich Utopie als Denkform auf etwas bezieht, das es nicht gibt. Wollte man im Kontext des Beethovenfestes von einer verwirklichten Utopie sprechen, so müsste man die beiden Konzerte der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi zu seinem Start nennen. Die Programmwahl galt sinnigerweise dem Genius loci genauso wie dem Jubilar des laufenden Jahres.
Wobei dem Eröffnungsabend „mit drei B“ - es erklangen Beethovens Es-Dur-Klavierkonzert sowie Schumanns „Manfred“-Ouvertüre und Rheinische Sinfonie in c-Moll bzw. der nämlichen Tonart - ein zweiter ohne Vorzeichen folgte: eben mit Beethovens „Leonore III“ und „Prometheus“-Ouvertüre sowie Schumanns Cellokonzert und zweiter Sinfonie. Als Zugaben wurden Sätze aus dem im vergangenen Jahr begonnenen Projekt der Gesamtaufnahme aller Beethoven-Sinfonien (ebenfalls mit Järvi) gespielt.
Der elektrisierende, kernig-nervige Zugriff, der vor Energie berstende Grundklang, der den Hörer schier aus dem Sessel holt und zu einem Markenzeichen neuerer Beethoven-Interpretation wurde - all das stellte sich unfehlbar wieder ein. Gelegentlich störend ist allenfalls die virtuos-aggressive Präsenz der Bläser, die die Violinen schon mal ins Hintertreffen geraten lassen. Hier wäre eine Feinjustierung nicht schlecht.
Weihrauch-Nebel statt sakraler AnmutungWenn an dieser Stelle etwas empfohlen werden darf, dann dieses: Järvi und die Bremer sollten unbedingt auch den sinfonischen Schumann einspielen - damit lehrten sie mancher gediegen-philharmonischen Konkurrenz das Fürchten. Als Beispiel sei hier nur einmal der vierte Satz der „Rheinischen“ genannt: Häufig ertrinkt seine sakrale Anmutung in einem muffigen Weihrauch-Nebel, so dass man gar nicht mehr hinhören möchte. In Bonn aber erklangen Schumanns archaischer Kontrapunkt, seine Kanon- und Cantus-firmus-Künste so aktiv, mit einer derart leuchtenden Transparenz, dass man zum Zuhören gezwungen wird. Nickerchen bei langsamen Sätzen - damit ist es überhaupt bei dieser Deutungsart vorbei.
Wobei die Bremer allerdings auch nicht mehr den Fehler früherer Tage begehen, vor lauter Innenspannung und rhythmischer Sprungbereitschaft den Klang in den Adagios und Larghettos nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Und ein exzeptioneller Meister ist Järvi in der Kunst des Schließens: Wie er Spannungskurven ausschwingen lässt, die Satzsubstanz rückschauend versammelt, die Musik Abschied nehmen lässt und sich seinerseits von ihr verabschiedet, das zeugt von imposantem dramaturgischem Gefühl und untrüglichem Formbewusstsein.
Angesichts der in jeder Hinsicht superioren Leistung dieses Orchesters unter diesem Dirigenten - im Rahmen des zweiten Konzerts erhielten die Bremer den Preis der Deutschen Schallplattenkritik - verblassten sogar die Vorstellungen der nicht minder illustren Solisten. Hélène Grimaud spielte - am ersten Abend - das Beethoven-Konzert klassisch lapidar, mit diszipliniertem Ernst und großem, ganz selbstverständlichem pianistischem Können, aber halt auch mit einer eigentümlich distanzierten Gestik und neutralen Kühle. Am schönsten geriet der Mittelsatz: Hier wirkte das Rubato bei den großen melodischen Bögen der Oberstimme nie affektiert, sondern ganz natürlich aus dem Geist der Musik entwickelt.
Auch Sol Gabetta schien im Schumann-Konzert aller spielerisch-impulsiven, gelegentliche falsche Töne nicht scheuenden Attacke nur halb auf ihre Kosten zu kommen - was in der Tat an dem Werk liegen mag, das ein Stück weit gegen das Instrument komponiert ist und den Solisten geradezu auszubremsen scheint. Welcher Klangmagie diese Künstlerin fähig ist, das zeigte sie erneut in ihrer Lieblingszugabe, der Miniatur „Dolcissimo“ des Zeitgenossen Peteris Vasks, wo sie zu ätherischen Flageoletts ihres Cellos sogar noch singen darf (oder muss). Wohlgemerkt: Wenn hier verhalten gemeckert wird, dann angesichts eines hohen Basisniveaus. Insgesamt ein denkbar gelungener Einstand des diesjährigen Beethovenfestes.
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