Typisch französisch?

Badische Zeitung.de
14 Nov 2012

Albert-Konzert: Järvi, Tetzlaff und das Orchestre de Paris.
Seit kurzem Chevalier des „Ordre des Arts et des Lettres“: Dirigent Paavo Järvi Foto: afp
 
Reden wir über Klischees. Französische Orchester haben nicht das beste Image unter den Spitzenklangkörpern dieser Welt. Sie gelten als schwankend in der Form, unzuverlässig. Aber sie haben noch immer einen ganz typischen Klang, einen der ideal zugeschnitten ist auf die Musik ihres Landes, wie sie sich von Berlioz weg hin in den Impressionismus bewegt hat. Soweit die Stereotype. Und dann lauscht man dem Orchestre de Paris beim Albert-Konzert im voll besetzten Freiburger Konzerthaus und seiner Interpretation von Ravels Suite "Le Tombeau de Couperin"… Und findet sich schon nach wenigen Takten im – positiven – Fahrwasser des Klischees. Panta rhei – alles fließt bei den Sextolen-Ketten des Prélude, die Holzbläser-Klangfarben oszillieren unvergleichlich, mit charmantester Delikatesse leitet die Harfe die letzten sechs Takte ein. Charismatischer kann man diese klassizistische Musik nicht spielen.

Solche musikalische Perfektion und Stimmigkeit hat aber noch einen anderen Namen: Paavo Järvi. Der aus Estland stammende Chef des Orchesters strahlt unbedingte Souveränität und Ruhe aus, seine Schlagtechnik ist zurückhaltend, aber dafür umso präziser, was sich vor allem beim Hauptwerk des Abends, Strawinskys "Le Sacre du Printemps", noch deutlicher zeigt. Bei Mozarts G-Dur-Violinkonzert KV 216 kehrt es indes zurück, das Klischee – im negativen Sinne. Hier irritiert der wie von einem Gaze-Vorhang eingedunkelte Streicherklang, wirken die Begleitfiguren allzu oft verwischt, fehlt es mitunter an der Balance zwischen Streichern und Bläsern (Andante-Teil des Rondeau). Man könnte aber auch einwenden, dass diese Abkehr von zu markanter Akzentuierung der bewusste Versuch ist, Mozarts "Straßburger Konzert" über eine Interpretations-Äußerung des Komponisten nahezukommen: "Es ging wie öhl, alles lobte den schönen, reinen Ton." Für den Solisten Christian Tetzlaff gilt das in höchstem Maße, es ist großartig, wie er in diese Musik hineinhört und sie interpretiert – bis hin zu seinen selbst verfassten Kadenzen, in denen ein ideales Ebenmaß von Stilgespür und modernem Effet vorherrscht. Am tiefsten beeindruckt der langsame Satz: Wie Tetzlaff die D-Dur-Kantilene über die ersten vier Achtelschläge aufblühen lässt – das ist die musikalische Umsetzung von Winckelmanns Klassik-Definition: edle Einfalt, stille Größe. Da zeigt sich überdies der erfahrene Kammermusiker Tetzlaff, der seinen Schlusspunkt mit dem Allegro assai aus Bachs C-Dur-Solosonate setzt.
Eruptiv tönende Größe lassen Järvi und sein Orchester Strawinskys "Sacre" angedeihen. Die Modernität dieser gut 100 Jahre alten Musik, ihre Maßlosigkeit, vor allem aber ihre klangliche Raffinesse entfalten in dieser Wiedergabe maximale Wirkung. Und dabei blättern Järvi und die exzellenten Musiker die Partitur so selbstverständlich, so transparent auf, dass man ihre metrische, rhythmische, harmonische Komplexität nur erahnen kann. Panta rhei – und wieder fließt alles. Einschließlich der Klischees: Auch ein Bizet, wie die als Zugabe musizierte Farandole aus der "Arlésienne-Suite" könnte "typischer", will heißen französischer kaum ertönen…

http://www.badische-zeitung.de/klassik-rezensionen/typisch-franzoesisch--65625939.html

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