Kokain

Süddeutche Zeitung Nr 176
02. August 2011
Egbert Tholl

Paavo Järvi und seine Deutsche Kammerphilharmonie Bremen mit Schumanns Sinfonien in Sankt Petersburg
"Sie ist das erste Werk der Gegenwart."
Das schrieb im April 1849 der damalige
Chefredakteur der Neuen Zeitschrift für
Musik, Franz Brendel, in Kenntnis des
vierhändigen Klavierauszugs von Robert
Schumanns zweiter Symphonie. Heute
mutet diese Aussage etwas befremdlich
an, begegnet einem dieses Werk im Konzertbetrieb
doch eher in einer Gestalt von
homogener, klassizistischer Schönheit -
erlesene, meist falsch verstandene Romantik.
Um zu begreifen, dass Schumanns
Zweite und mit ihr alle seine vier
Symphonien eine noch heute gültige Modernität
besitzen, musste man jetzt nach
St. Petersburg reisen. Denn dort, im Konzertsaal
des Mariinsky- Theaters, spielte
die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
beim "White Nights Festival" als einziges
ausländisches Orchester unter ihrem
Chefdirigenten Paavo Järvi an zwei
Abenden die vier Symphonien - ein radikaler
Bruch mit einer in Schönheit erstarrten
Schumann-Tradition.
Järvi ist nicht der erste, der in Schumanns
symphonischen Schaffen das Zerrissene,
das Disparate entdeckt - zu nennen ist etwa
die Einspielung der Symphonien durch
Fabio Luisi und den Wiener Symphonikern.
Aber Järvi geht viel weiter, ist viel radikaler.
Ein Eindruck, den die schonungslose,
jede Verzauberung einer gleichzeitigen
Analyse unterwerfenden Akustik des
Mariinsky-Saals sicherlich befördert. Aber
die eigentliche Ursache liegt woanders: Im
ungemein organischen Zusammenspiel
der rund 40 Musiker (in Russland waren
noch etwa zehn Gäste dabei), die als Gesellschafter
ihre künstlerischen Geschicke
selbst bestimmen und dabei 60 Prozent
ihres Etats selbst erwirtschaften. Dieses
Orchester ist ein selbstbewusst verschworenes
Häuflein, in dem jeder auf jeden
reagiert, in dem regelmäßig die ersten mit
den zweiten Geigen den Platz tauschen,
um Frische und Spontanität zu erhalten.
Mit Järvi arbeiten sie in größeren inhaltlichen
Zusammenhängen. Vor zwei Jahren
machten sie so mit einem abenteuerlich
frischen Beethoven- Zyklus nicht nur bei
diversen Festivals Furore; das aktuelle
Schumann- Projekt wird im Herbst dieses
Jahres seinen Abschluss finden in der
Aufnahme der zweiten und vierten Symphonie.
Und vielleicht werden die vier
Symphonien dann auch einmal als Zyklus
in Deutschland zu hören sein.
Paavo Järvi ist seit 2004 Chef in Bremen,
folgte auf Thomas Hengelbrock und Daniel
Harding, und ist einer jener Dirigenten,
die scheinbar den Hals nicht vollkriegen.
Der gebürtige Este ist Chef des Symphonieorchesters
des Hessischen Rundfunks,
des Orchestre de Paris, leitete bis
vor kurzem auch noch das Cincinnati
Symphony Orchestra und ist künstlerischer
Berater des estischen Nationalorchesters.
Doch was wie hybrider Arbeitswahn
wirkt, ist künstlerisch kalkuliert: Bei
jedem Orchester versucht er, so sagt er
zumindest, das zu diesem passende Repertoire
zu dirigieren. Bei den Bremern
fühlt er sich dabei vielleicht an seine (sehr
kurze und sehr frühe) Zeit als Schlagzeuger
in der experimentellen Rock-Band von
Erkki- Sven Tüür erinnert. Jedenfalls ist
das Ergebnis von einer atemberaubenden
musikantischen Intensität, von grandioser,
unmittelbarer Lebendigkeit, versehen mit
erhellenden analytischen Entdeckungen.
Järvis symphonische Abenteuer mit der
Kammerphilharmonie wirken wie Kokain.
Einschließlich der Suchtgefahr.
In St. Petersburg paarte Järvi die Erste
mit der Vierten, die Zweite mit der Dritten.
Das ist korrekt nach der Entstehungsgeschichte,
die offizielle Zählung berücksichtigt
die Drucklegung der Partituren. Entscheidender
ist aber, dass so der eine
Abend den anderen vorbereitet, die Heterogenität
fortschreitet. Am Ende klingt
selbst Schumanns dritte Symphonie, die
"Rheinische", die einzige, die von den vieren
wirklich populär geworden ist, als flösse
der breite Strom quer durch die Stadt
Köln und hinterließe eine sehr große Unordnung,
aus der eigensinnig Bedeutungsvolles
herausragt.
Bei Järvis Schumann gibt es keine bequemen
Gewissheiten mehr. Die Erste und
die Vierte sind bei ihm voll schwebender
Rätsel, die auf Wagner und auch Bruckner
verweisen, aufs Kommende also. In
unglaublicher Spannung steht hier rokokoartiger
Streicherglanz neben Biertischlärm,
wird jede Wiederholung zu einer
dramatischen Steigerung des Vorangegangenen,
nicht zu dessen Manifestation.
Man mag Järvi vorwerfen, er betone
den einzelnen Moment auf Kosten der
großen Bögen; doch nie verliert er den
dramatischen Verlauf aus dem Blick. Im
Grunde breitet er nacheinander und für
sich völlig durchgestaltet das aus, was 50,
60 Jahre später Gustav Mahler verdichtet
und gleichzeitig episch zum Ausdruck
bringt: das Sehnen nach etwas Höherem,
derbe Erdverbundenheit, Schmerz und
herrliche Süße.
Am Beeindruckendsten in der Zweiten, die
Schumann auf dem Krankenlager zu komponieren
begann, nach einem physischen
und psychischen Zusammenbruch. Järvi
zeichnet das Psychogramm eines Zerrissenen,
bedient sich voller Vertrauen der
elastischen Qualitäten der Bremer, stellt
die einzelnen Phrasen hart gegeneinander,
verschleift nichts. Die schlanke Besetzung
und die enormen solistischen Qualitäten
der Musiker tun ein Übriges, um in
erstaunlicher Transparenz Schichten und
Formen bloßzulegen. Das Ergebnis ist
durchaus beklemmend, wäre stellenweise
gar schwer zu ertragen - aber darum geht
es ja in dieser Symphonie -, wäre da nicht
die herrliche Ruhe des Adagio. Ein Trost
dann doch.
EGBERT THOLL
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