„Es war ein durchaus riskantes Projekt“


Weser Kurier
Iris Hetcher
09/12/2016

Dirigent Paavo Järvi über die Einspielung aller Beethoven-Sinfonien mit der Deutschen Kammerphilharmonie
Herr Järvi, die Beethoven-Box mit allen neun Sinfonien ist fertig. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und Sie hatten in den vergangenen zehn Jahren eine Art Langzeitbeziehung mit dem Komponisten. Sind Sie jetzt erst einmal durch mit Beethoven?


Beethoven wird ihn immer begleiten, doch derzeit blickt Paavo Järvi schon auf die kommenden Projekte mit der Kammerphilharmonie. (Michael Galian)


Paavo Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen geben gemeinsam mit dem Pianisten Menahem Pressler am 9., 10. und 11. Dezember Konzerte in der Glocke. Es gibt jeweils Restkarten an der Abendkasse. (JULIA BAIER, Baier und Julia)

Paavo Järvi: Das fühlt sich erst einmal so an. Aber da im Jahr 2020 das große Beethoven-Jubiläum ansteht, setzen wir die Beziehung sozusagen fort mit mindestens zwei Zyklen. Wir spielen die Sinfonien beispielsweise in China und an anderen Orten.

Es gibt also kein Leben ohne Beethoven.

Das Orchester ist für seinen Beethoven weltweit bekannt. Er wird also immer Teil unseres Repertoires sein. Alle Sinfonien sind aufgenommen, das war schon ein großes Projekt.

Wenn man die Box durchhört, fällt einem als Grundton eine gewisse Klarheit und Frische auf, Sie dirigieren zügig, manchmal mischen sich spielerische Momente darunter. Was hat Sie am meisten an der Zusammenarbeit mit dem Orchester beeindruckt?

Es war ein durchaus riskantes Projekt. Als ich begonnen habe, mit dem Orchester zu arbeiten, habe ich allerdings sofort gedacht: ‚Wenn ich Beethoven aufnehme, dann mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen‘...

...warum?

Weil die Art, wie die Musiker Beethoven interpretieren, mir sehr vertraut und logisch vorkam. Diese traditionell mit Beethoven verknüpfte Schwere fehlt; dieser Ansatz, mit dem wir alle aufgewachsen sind. Ich komme aus einer Dirigenten-Familie und bin mit sehr vielen Versionen der Beethoven-Sinfonien aufgewachsen. Und immer war die allgemeine Herangehensweise so: Wenn es Beethoven ist, ist es großartig, wenn es großartig ist, ist es sehr ernsthaft und hat sehr viel Tiefe. Was bedeutet, man muss es langsam spielen...

...und möglichst düster.

...und düster, allerdings. Und immer, wenn man dann an Beethoven denkt, denken alle an diese Schwere, diese Gravitas. Das gilt als die Wahrheit, die man nicht infrage stellen darf. Aber wenn man sich die Musik anschaut, sieht man, er hat eigentlich etwas ganz anderes geschrieben, hat sehr genau notiert, wo er sich ein Legato vorstellt und wo mehr Dynamik. Also haben wir uns gedacht: Wir schauen mal, was passiert, wenn man es so spielt, wie es notiert ist. Und das ist jetzt das Resultat.

Welche Rolle hat das Wort Respekt bei Ihrer Interpretation gespielt?

Es gibt diese sehr dünne Linie zwischen Tradition und Respekt und ebenso Text. Unsere Beschäftigung mit allen Dreien hat uns nicht nur in der Interpretation herausgefordert, sondern auch als Persönlichkeiten. Haben wir wirklich das Recht, die Tradition infrage zu stellen? Wo ist der Übergang zwischen Tradition und einfach nur einer schlechten Angewohnheit? Wo ist der Respekt für den Text, oder geht es nicht eher um den Respekt vor der Auffassung anderer Dirigenten? Die meisten Menschen, deren Interpretation von Beethoven wir auf CD hören, haben Beethoven nie getroffen. Also: Wenn man beginnt, in größeren Zusammenhängen zu denken, tun sich da ganz schön viele Fragen auf. Am Ende steht dann immer die Kardinalfrage: Wie sehr ist man bereit, ein Risiko einzugehen, und ist es das wert?

Was hat den Ausschlag gegeben, das Risiko einzugehen?

Für mich gab es da rein musikalische Gründe. Wenn im Text Allegretto steht und jeder lässt es als Adagio spielen und ignoriert auch ansonsten alle Anmerkungen Beethovens, dann geht es darum, ob man dem Text mehr Glauben schenkt oder der Interpretation eines Dirigenten. Dabei geht es mir nicht um richtig oder falsch, aber genau an dem Punkt wurde es für mich spannend. Wobei viele Menschen im Vorfeld gesagt haben, klingt interessant, aber das ist eigentlich verkehrt.

Richtig oder falsch kann es in der Musik doch eigentlich gar nicht geben, oder?

Das kommt darauf an, wen Sie fragen. Es gibt schon Menschen, die denken, sie seien im Besitz der Wahrheit. Aber es ist viel besser geworden, andere Auffassungen werden durchaus akzeptiert.

Was Sinfonien angeht, ist Beethoven ein Titan. Wer ist das für Sie noch?

Brahms, Mozart und Haydn.

Haydn wird oft unterschätzt, er gilt eher als Leichtgewicht.

Wenn es um sinfonische Musik geht, ist er der Größte, seine Behandlung der formalen Aspekte ist perfekt. Es gäbe keinen Mozart, keinen Beethoven, keinen Schubert, Brahms oder Mahler ohne Haydn.

Wann also widmen Sie sich gemeinsam mit der Kammerphilharmonie Haydn?

Möglichst bald. Auf jeden Fall planen wir, die Londoner und die Pariser Symphonien aufzunehmen. Aber jetzt sind wir erst einmal mit Brahms beschäftigt. Und dann vielleicht mit Schubert, das wünsche ich mir jedenfalls.

Was fasziniert Sie an Schubert?

Er wird ebenso wie Haydn unterschätzt, aber er war wirklich ein Genie – ein großer Komponist. Schubert wird immer nur als Lieder-Komponist eingestuft, schon zu seinen Lebzeiten war das so. Das hat sich als Auffassung von ihm so eingeschlichen und es dauert lange, ehe sich so etwas wieder ändert. Es ist sehr subtile, farbenreiche Musik, nichts für eine Zeit wie die heutige, in der einfache, laute Finale angesagt sind. Deshalb ist es auch eher schwierig, ein großes Publikum für Schubert zu gewinnen.

Sie bezeichnen die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen immer als „meine Familie“. Ist das nicht etwas pathetisch?

Ja, aber warum nicht? Natürlich klingt das wie ein Stereotyp, aber es stimmt. Wir kennen uns seit rund 20 Jahren. Ich verbringe mit den Musikern mehr Zeit als mit meinen Kindern. Gerade waren wir drei Wochen auf Asien-Tournee, haben zusammen gegessen, sind zusammen gereist, wir sind sehr eng miteinander.

In Asien ist die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen ungeheuer populär, allein, wenn man sich die hohen Verkaufszahlen der CDs anschaut. Wie erklären Sie sich das?

Es könnte etwas mit der Mentalität zu tun haben. Die Japaner beispielsweise sind ein sehr loyales Publikum und die Rolle, die klassische Musik spielt, ist eine andere.

Inwiefern?

In Europa oder den USA ist klassische Musik zu einer Art Unterhaltung vor oder nach dem Essen geworden; man macht sich einen netten Abend. In Asien und vor allem in Japan hat der Besuch eines Konzerts noch viel mehr von einer spirituellen Erfahrung. Das hat vielleicht damit zu tun, dass klassische Musik nicht eine der dortigen traditionellen Kunstformen ist und man ihr daher mit mehr Respekt und Bewunderung begegnet. Die Asiaten wissen grundsätzlich ungeheuer viel über Klassik, und in Japan gelten die deutschen Komponisten, aber auch Dirigenten, als Meilensteine der Klassik.

Was steht bei der Kammerphilharmonie und Ihnen als Nächstes an?

Wir stecken mitten in unserem Brahms-Projekt und müssen noch drei CDs fertigstellen. Ich hoffe, dann können wir uns Schubert, Mozart oder Mendelssohn widmen. Aber wir haben ja noch etwas Zeit uns zu entscheiden. Jetzt ist uns Brahms wichtig.

Noch einmal zurück zu Beethoven - gibt es für Sie persönlich einen Liebling unter den neun Sinfonien?

Ich mag die Eroica, die dritte Sinfonie. Sie ist revolutionär, sie stellt einen Bruch dar mit Konventionen. Die Musik musste sich entscheiden, ob sie politisch oder reine Musik sein will. Die Eroica ist somit ein erster Schritt in Richtung sozial bewusster Kunst. Auch wie er die Sinfonie geschrieben hat, ist einzigartig. Bis zu diesem Moment gab es diese Art von Sinfonie nicht, er hat viele Regeln gebrochen. Nehmen Sie nur den Anfang, das Stück beginnt ohne Einleitung, es ist, als wird dem Zuhörer zwei Mal ins Gesicht geschlagen. Ein Weckruf für die Welt und die Etablierung eines neuen Standards für die Sinfonie, einfach außergewöhnlich. Bruckner und Mahler wären ohne Beethoven nicht möglich gewesen.

Sie haben alle Sinfonien am Stück auf Festivals gespielt. Wäre das nicht auch denkbar für Bremen, so eine Art Beethoven-Wochenende?

Das klingt gut. Ich denke aber, dass wir in den vergangenen Jahren so viel Beethoven in Bremen gespielt haben, dass das Publikum hier lieber etwas Neues von uns hören möchte. Außerdem haben wir immer so viele Ideen, was wir alles noch machen wollen. Obwohl: Beethoven verdient das natürlich immer.

Das Gespräch führte Iris Hetscher.

Paavo Järvi signiert die Bremer Edition der neun Beethoven-Sinfonien am Freitag, 14.30 Uhr, im Kundenzentrum des Pressehauses an der Martinistraße 43. Die Box gibt es dort am Freitag zu Sonderkonditionen zu kaufen.

Paavo Järvi ist seit 2004 Künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Järvi stammt aus einer Familie von Dirigenten. Er hat für seine Arbeit, auch als Chefdirigent des NHK Symphony Orchestra Tokyo, diverse Preise erhalten.

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