Europas Musiziergeist, in Estland konzentriert

diepresse.com
Walter Weidringer
18.08.2017

Im verträumten estnischen Badestädtchen Pärnu leitet Paavo Järvi ein einzigartiges Festival – und hat mit dem Estnischen Festivalorchester einen Klangkörper von europäischem Rang ins Leben gerufen.



Singend betritt das Streichquartett die Bühne: „Jaaniku, jaaniku!“, schallt es hin und her – und setzt sich instrumental fort: Auf estnischen Volksliedern basiert „Jaanikvartett“ des im Jänner 86-jährig verstorbenen Komponisten Veljo Tormis. Liebliche Spätromantik der 1920er (Heino Ellers „Männid“) antwortet darauf, gefolgt von pittoresken Schaukämpfen zwischen tonalen und atonalen Gesten, die Toivo Tulev in „Now Comes Good Sailing“ mit einer Prise Exotik würzt – und Erkki-Sven Tüür lässt in seinen Klaviertrios „Fata Morgana“ und „Lichttürme“ die Arpeggi flirren. Am nächsten Abend dann vor allem Mozart, in Gestalt einer Bearbeitung der Violinsonate KV 378 für Klarinette und Streichtrio durch Johann Anton Andrè. Matthew Hunt zeigt sich da als kecker Schmeichler, der mit seiner Klarinette spielerisch Schalk, Anmut und Galanterie vereint: eine famose Mischung.

Neue Musik, nicht bloß aus Estland, Raritäten quer durch die Musikgeschichte und natürlich Herzstücke des Repertoires: Das reiche Programm des Pärnu Music Festival reflektiert das personelle Konzept, das der Dirigent Paavo Järvi als Spiritus rector hier verwirklicht: Das 2011 von ihm gegründete Estnische Festivalorchester vereint Mitglieder des Kammerorchesters Tallinn mit dem besten estnischen Nachwuchs und Spitzenmusikern aus all den Klangkörpern, mit denen Järvi eng zusammengearbeitet hat: Bremen, Frankfurt, Paris – und gewiss bald auch Zürich, wo er 2019 Chef des Tonhalle-Orchesters wird. Unter seiner unprätentiös-kollegialen, immer sach- und werkdienlichen Leitung eifert das Ensemble also dem Lucerne Festival Orchestra nach – in bereits jetzt erstaunlicher Qualität. Bei einem ersten Gastspiel in Lettland, in der nicht gerade idealen Akustik der Dzintaru-Halle in Jūrmala, war zu hören, mit welch sarkastischem Biss und zugleich sonorer Farbigkeit das Orchester Schostakowitschs erste Symphonie erfüllte und auch die Schmerzensklänge seines achten Streichquartetts (in Rudolf Barshais behutsamer Bearbeitung) nicht schuldig blieb. Und erneut war es Matthew Hunt, der bei einer Zugabe lässig glänzte: einem charmanten, an Piazzolla erinnernden Walzer aus Lepo Sumeras Musik zum Film „Die Frühlingsfliege“.

Dass die Kammermusikabende zwischen den orchestralen Konzert-Eckpfeilern nicht etwa gastierende Ensembles bestreiten, sondern sich die Orchestermitglieder selbst beweisen, spricht für sich. Zusammen mit der peniblen Probenarbeit unter Järvi ergibt das ein dichtes Arbeitsprogramm, das freilich alle mit Freude erfüllen: Hier gilt's der Kunst. Regiert in berühmteren Festspielhochburgen oft der Trubel, gewinnt man in Pärnu noch den Eindruck, dass die Musik aus der vorhandenen Stille erwächst. Der Ablenkungen sind geringe, davon profitiert auch das Publikum.

Herrlich aus der Zeit gefallen und doch behutsam modernisiert, so erscheint Pärnu heute – und selbst der drei Kilometer lange, seichte Sandstrand ist nicht überlaufen. 1251 vom Deutschen Orden als Pernau gegründet, hat die Hansestadt an der nordöstlichen Rundung des Rigaer Meerbusens seit 1838 einen Aufschwung als Bade- und Kurort genommen. 1918 wurde nicht etwa in Tallinn, sondern hier die Unabhängigkeit vom revolutionär zerfallenen Zarenreich ausgerufen und eine Republik installiert, die 1940 mit der Besatzung durch die Rote Armee ihr vorläufiges Ende fand. In Sowjetzeiten gab es keinen „westlicheren“ Ort, hier traf sich im Sommer auch die musikalische Elite: David Oistrach veranstaltete sogar ein kleines Festival, ein berühmtes Foto zeigt den Buben Paavo mit seinem Vater Neeme Järvi und dem musikalischen Übervater Schostakowitsch, der hier gleichfalls Urlaub machte. 1980 gelang den Järvis die Emigration in die USA; heute ist die Dynastie wieder in der alten, seit 1991 erneut unabhängigen Heimat verwurzelt. Neeme, im Juni 80 geworden, dirigierte das Eröffnungskonzert; auch Paavos Bruder Kristjan, der frühere Tonkünstler-Chef, verbringt hier seine Ferien; Schwester Maarika spielt Flöte im Festivalorchester.

Feierlaune im Café Passion


Familiäre Stimmung auch im heimlichen Festival-Hauptquartier, dem in die Fußgängerzone überquellenden Café Passion. Hier herrscht zwanglose Feierlaune: Orchestermitglieder, Teilnehmer der Järvi-Dirigierakademie, Publikum und Journalisten essen und trinken zusammen; Privatgespräche wandeln sich zu Interviews und umgekehrt.

Atmosphäre bedeutet viel, in erster Linie aber fasziniert die Musik. Als Probenkiebitz im eher funktionalen als prunkvollen, ovalen großen Saal des Konzerthauses konnte man miterleben, wie Paavo Järvi in tadelloser Akustik zuerst die Einzelteile von Nielsens „Aladdin“-Suite fein säuberlich zu schillernden Szenen zusammensetzte, bevor sich ein kleines Wunder anbahnte: In einem Durchlauf der ersten beiden Sätze von Sibelius' zweiter Symphonie kam zur brillanten Klarheit plötzlich auch eine enorme Gefühlstiefe, die nicht zuletzt aus dem innigen Streicherklang erwuchs. Die große Musik des Finnen, wie neu geboren aus gesamteuropäischem Geist: ein bewegendes Versprechen.

Das Estnische Festivalorchester unter Paavo Järvi auf Europatournee: Wiener Konzerthaus, 23. Jänner 2018 (Pärt, Sibelius, Schostakowitsch).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2017)

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