Paavo Järvis Liebe zu Sibelius – glühende Intensität statt nordische Schwere

nzz.ch
Marcus Stäbler
22.09.2019

Der neue Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich hat die Sinfonien von Jean Sibelius aufgenommen – mit seiner wegweisenden Gesamteinspielung stellt Järvi das gängige Bild des Finnen von Grund auf infrage.


Jean – eigentlich Johan Julius Christian – Sibelius (1865–1957), hier auf einer Fotografie von 1923, war neben Gustav Mahler der überragende Sinfoniker im Übergang zwischen Spätromantik und Moderne. (Bild: Imago)

Dunkle Wälder, tiefe Seen. Und die unendliche Weite. Kaum ein Text über die Musik von Jean Sibelius kommt, zumindest im deutschen Sprachraum, ohne solche Bilder und Assoziationen aus, die den bedeutendsten nordischen Sinfoniker zu einem komponierenden Naturburschen machen. Zu einem typischen Nationalromantiker, der die Landschaften Finnlands und die vermeintliche Schwermut der nordischen Seele in Töne gekleidet habe.

Aber ist diese Vorstellung tatsächlich in den Werken selbst begründet? Oder doch eher durch die zielgerichtete Rezeption konstruiert? Eine spannende Frage, die eine Gesamtaufnahme der Sibelius-Sinfonien unter der Leitung von Paavo Järvi jetzt neu aufwirft. Sie findet einen ganz eigenen Zugang zur Musik und legt die Vermutung nahe, dass da allzu zu oft und zu lange nicht so genau in die Partituren geschaut, sondern ein liebgewonnenes Missverständnis zementiert wurde.

Fernab aller Routine


Paavo Järvi, seit Saisonbeginn neuer Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich, hat die sieben Sinfonien von Jean Sibelius zwischen den Jahren 2012 und 2016 mit dem Orchestre de Paris einstudiert, aufgeführt und aufgenommen – und konnte dabei gerade nicht an eine lange Tradition anknüpfen; seine Konzertaufnahme ist vielmehr die erste Sibelius-Gesamteinspielung eines französischen Orchesters überhaupt. Aber der vermeintliche Nachteil entpuppte sich als Trumpf, wie Järvi selbst im Beiheft der Produktion herausstellt.

Weil die Musiker hier Neuland betraten, war die Begegnung mit den Sinfonien für sie eine aufregende Entdeckungsreise. Sie folgen ihrem Dirigenten denn auch hochkonzentriert und fernab aller Routine. In den frühen Sinfonien entfachen Järvi und sein Orchester eine glühende Intensität, wie man sie nur von wenigen Interpreten kennt. Das ist etwa in der 2. Sinfonie beispielhaft zu erleben, in deren Finale die Musik von einer drängenden, bisweilen hitzigen Unruhe vorangetrieben wird.

Schon im Kopfsatz weicht Järvi von gängigen Pfaden ab und offenbart eine selten zu hörende Frische, gerade im Vergleich mit Sibelius-Aufnahmen der Vergangenheit. Wirkt der Beginn in der oft als Referenz angeführten Einspielung mit John Barbirolli und dem Hallé Orchestra aus den 1960er Jahren dunkel und schwer, so bekommt die Passage beim Orchestre de Paris einen ganz anderen Aggregatzustand: Sie wirkt flüssiger und lebendiger, weil Järvi nicht bloss ein rascheres Grundtempo anschlägt, sondern dieses Tempo auch immer wieder ein wenig anzieht, um im nächsten Moment nachzugeben. Die Musik steht so nie auf der Stelle, sie atmet und pulsiert organisch und scheint wie befreit von der Last der Tradition, die Sibelius gern als Galionsfigur einer vermeintlich nordischen Trägheit vereinnahmt hat.

Liebevoller Blick


Järvi findet einen eigenen, von derartigen Klischees unbelasteten Zugang. Er hat schon bei seinem professionellen Debüt als Dirigent im Jahr 1985 eine Sinfonie von Sibelius aufgeführt und seither eine besonders enge Beziehung zu dessen Schaffen entwickelt. Diese Nähe ist der Konzertaufnahme mit dem Orchestre de Paris in jedem Werk anzumerken. Durch die Hingabe, mit der Järvi den emotionalen Botschaften nachspürt, aber auch durch einen geradezu liebevollen Blick für die Nuancen. Hinreissend etwa, wie sanft der Dirigent und sein Orchester die Melodie im langsamen Satz der 1. Sinfonie schwingen lassen. Die Streicher formen hier einen nicht bloss leisen, sondern geradezu zärtlichen Klang und finden noch innerhalb von Piano und Pianissimo viele Farbschattierungen. Einer von vielen Belegen für die Sensibilität der Aufnahme und für das exzellente Niveau des Orchesters.

Auch in der 6. Sinfonie verlangt Järvi einen weicheren, weniger rauen Klang als gewohnt. Sphärisch schweben einem da die einleitenden Streicherklänge ins Ohr, wie eine verklärte Himmelsvision. Keine Spur von der Düsternis, die man der Musik von Sibelius ja gern als Dauerzustand unterstellt. Ein Weichzeichner ist Järvi gleichwohl nicht, die Wucht der Musik tritt klar zutage. Er meidet das Phlegma, das man mitunter von anderen Interpreten hört und deshalb dem Komponisten selbst anlastet. Auch in der 4. Sinfonie, dem vielleicht avanciertesten Werk.

Kammermusikalische Sorgfalt

In dieser Vierten aus den Jahren 1909 bis 1911 schlägt Sibelius tatsächlich einen schwermütigen Ton an und gräbt sich oft in die dunklen Klangschichten des Orchesters hinein. Die eigentümliche Polyphonie erwächst aus einem Kernintervall, dem Tritonus, den Sibelius gleich in den ersten Takten einführt. Auch hier, in der düsteren Welt der Vierten, wahrt Paavo Järvi einen transparenten Orchesterklang, er modelliert die Strukturen mit kammermusikalischer Sorgfalt und verbindet diese Disziplin im Klang und im Zusammenspiel mit der Suche nach dem Ausdrucksgehalt der Musik. Dabei erkundet er die vergrübelten Momente und die Seelenschwärze ebenso empathisch wie den Überschwang oder das Schwelgen in anderen Werken.

Auch romantische Schwärmerei hat sich Sibelius ja bisweilen gegönnt, besonders schön in der Fünften. Deren Finale entfaltet eine hymnische Pracht, mit einem unvergesslichen Thema, das nach Auskunft von Sibelius selbst vom Anblick eines Schwarms aus sechzehn Schwänen am Himmel inspiriert ist. Hier scheint die Musik tatsächlich auf breiten Flügeln abzuheben – und schwingt sich zu einer Grösse auf, wie sie nur echten Meisterwerken eigen ist.

Jean Sibelius: Die 7 Sinfonien. Orchestre de Paris, Paavo Järvi (Leitung). RCA Red Seal CD 19075924512 (3 CD).

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