Die Welt: "...a craftsman with genius..."

Orchester muß man kitzeln; Der estnische Dirigent Paavo Järvi ist ein vielbeschäftigter Handwerker mit Genie

von Kai Luehrs-Kaiser
Die Welt, 2. November 2005

Kinder großer Musiker sind oft zu bedauern. Yehudi Menuhin krittelte seinen eigenen Sohn Jeremy aus der Leitungsnachfolge des Festivals in Gstaad heraus. Karlheinz Stockhausen klopft seinen Kindern Markus und Majella unerbittlicher auf die Musikerfinger. Paul und Rico Gulda lösen sich aus dem Schatten des großen Friedrich nur schwer.

Eine Vater-Ausnahme ist Neeme Järvi, der große alte Dirigent der musikalischen Kleinmeister aus Estland. Mit 357 CDs (von Hugo Alfven bis Eduard Tubin) ist er einer der bestdokumentierten Dirigenten aller Zeiten. Und mit drei selbstbewußten Kindern einer der erfolgreichsten Vorarbeiter für musikalischen Nachwuchs. Tochter Maarika brilliert als Solo-Flötistin, Sohn Kristjan ist Chef des österreichischen Tonkünstlerorchesters und gilt als "derzeit jüngster Dirigent" des Järvi-Clans. Was einerseits bedeutet: Wer weiß, wen die Familie noch alles bereithält? Und: Paavo Järvi ist älter.

"Mein größter Fan", staunt der heute 43jährige Paavo Järvi über den eigenen Vater. Die vierhändigen Haydn-Lektionen am Klavier waren die "Initialzündung" seiner seit 1985 aufheizenden Karriere. Heute ist der in Tallinn geborene Paavo Chef dreier Orchester - und im Begriffe, mit dem Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks 2006 ein viertes zu übernehmen. Ist das Größenwahn? Nein, eher Kleinmut in der Vervielfachung. "Dirigieren ist das, was ich am liebsten tue, wenn ich keine Musik mache", wiegelt Järvi selbstkritisch ab. Zahlreiche CDs zeigen ihn als eine der innovativsten, unberechenbarsten Begabungen seiner Generation. Ähnlich wie sein baltischer Kollege Mariss Jansons favorisiert Järvi Kontinuität statt Kasse, Langsamkeit statt Verschleiß.

Auf der Terrasse des "Baltic Beach Hotel" im lettischen Jurmula, einem alten Badeort, träumt Järvi von Walzer-Exzessen in der Rolle eines estnischen Willi Boskowsky und schimpft lässig über den eigenen Berufsstand. Viele junge Dirigenten verschluckten sich vorzeitig an Selbstüberschätzung und Allesmachertum. "Man kann nicht leben von Adrenalin", meint er und wendet sich eifrig einem Matjes-Hering zu. Paavo Järvi indes ist kein Phlegmatiker aus Passion wie die Figuren des Finnen Kaurismäki. Gerade der Deutschen Kammerphilharmonie, mit der er durchs Baltikum tourt, entlockt er die nervösesten, dünnhäutig-virilsten Töne, die derzeit in der Musikszene zu hören sind.

Beeinflußt von alter Musik überzeugt Järvi als ruheloser Orchester-Kitzler. Nach einem Probentag weiß man bei ihm nie, ob das Ganze so bleiben soll - oder ob er am Abend überraschend in eine andere Richtung hetzt. Gastieren mag der Grammy-Gewinner kaum noch. "Man arbeitet am Besten mit eigenen Orchestern", zitiert er George Szell, "selbst dann, wenn diese Orchester drittklassig sein sollten."

Der gelernte Schlagzeuger hat seine Karriere von unten aufgebaut. Nachdem er Hunderte Opern-Vorstellungen seines Vaters in Tallinn hörte, emigrierte die Familie in die USA. Hier übernahm Paavo mit dem Cincinnati Symphony Orchestra den Klangkörper seines Lehrers Max Rudolf - und führte es im Sturm auf die Musiklandkarte zurück. Den Erfolg der Cincinnati Pops hat er inzwischen überflügelt.

Dem Estnischen Nationalorchester bescherte er erstaunliche CD-Verträge. Mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die er 2004 von Daniel Harding übernahm, riskiert er zur Zeit einen Beethoven-Zyklus. Seit genau 25 Jahren besteht die Kammerphilharmonie, ist unter Schiff, Hengelbrock und Harding zu einem der transparentesten und sensibelsten Klangkörper gewachsen, die es zur Zeit gibt. Rhythmisch scharf, im Klang kühlend, bahnt sich beim Bremer Beethoven ein durch Lebendigkeit, Feinschliff und Frische aufsehenerregender Zyklus an. Hörbar kommt dieser Beethoven von Strawinsky her, nicht mehr von Wagner. Er durchkreuzt alle deutsch-dunkelnde Schwere - und bietet damit Ansätze für einen gesamteuropäischen Beethoven der Zukunft. Bei Konzerten, die durch die USA und die osteuropäischen Beitrittsländer Polen, Lettland und Estland führte, glich kein Konzert dem anderen. Vom "event of the summer" sprach die "New York Times". Von einem "wahrgewordenen Traum" Järvi selbst.

Vor acht Jahren stand das Orchester unmittelbar vor dem Konkurs. Durch ein Selbsthilfe-Konzept gewann man mehr Sponsoren, einen jungen Chef und wenig mehr Subventionen. Mit Orchestermitgliedern als eigenverantwortlichen Gesellschaftern hat die Kammerphilharmonie inzwischen ein Erfolgsmodell umgesetzt. "Children at heart" nennt Järvi seine Musiker nicht zufällig. Das Bremer Publikum, anfangs skeptisch, rennt dem Orchester die Häuser ein.

Im Tourbus feilschen die Musiker selbst um Resttickets - meist vergebens. Doch instrumentaler Übermut zahlt sich bei ihnen nicht nur im Fall notorischer Temperamentsdunkelmänner wie Beethoven, Schumann oder Strawinsky aus. Gerade in trübwelligen Gewässern wie Sibelius' "Valse triste" oder in Brahms Ungarischem Tanz Nr. 6 läuft man zu Hochform auf. Sollte jemals den Walzerfreuden der Wiener Philharmoniker eine deutsche Konkurrenz erwachsen, so wäre der wankende Witz, die messerwerfende Melancholie der Kammerphilharmonie hierfür der wohl einzige Kandidat.

Paavo Järvi träumt denn auch insgeheim von Strauß, Lanner und Lehár. Scheint ihm im Konzert eine Stelle gelungen, blickt er sich launig zum Publikum um. Er mag keinen Wagner, aber verehrt den Wagnerianer Humperdinck. Beklagt sich wortreich darüber, daß zu viel geredet werde. Und hat das Paradoxe der eigenen Person animierend auf sein Orchester übertragen. In Cincinnati spielt er Sibelius, in Tallinn Pärt. So sieht die Arbeitsteilung eines Spitzendirigenten von heute aus.

Paavo Järvi glänzt als ein musikalischer Lokalpolitiker und wirkt gerade so weltweit viel. Als ein Handwerker mit Genie. "Think big" ergibt sich bei ihm aus der Konzentration aufs Beschränkte. Moderner kann man in Krisenzeiten nicht denken.

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