Die lyrische Faust

Klassik.com
Dr. Aron Sayed
16.04.2014
War die Aufführung der Ersten Sinfonie von Brahms durch die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi im März noch wie mit geballter Faust gespielt, so nahmen sich die Bremer unter Führung ihres estnischen Chefdirigenten nun in der Vierten Sinfonie op. 98 auch mehr Zeit für die lyrischen Seiten. Das berühmte Kopfthema der e-Moll-Sinfonie wirkte durch die zarte Strichweise in den Violinen wie gehaucht. Erst in der Coda mit ihren abschließenden Orchesterschlägen brach dann die gewohnte Hochspannung durch. Zuvor stand vor allem eine fließende Darbietung des überstrukturierten Brahmsschen Gewebes mit Blick auf sämtliche Instrumentengruppen im Vordergrund. Die verblüffende Transparenz des Gesamtklangs der Kammerphilharmonie sucht in dieser Hinsicht wohl ihresgeleichen. Genauso interessant zu hören aber ist es, wie das Orchester  im 'Andante moderato' quasi auf Knopfdruck zwischen einer romantischen Lesart und der dominierenden hin und her zu wechseln versteht, der der historisch informierten Aufführungspraxis. Als das Hauptthema des Satzes gegen Ende noch einmal im Horn erklang, öffnete sich der Klang hin Richtung großes Sinfonieorchester.
Dass die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen ein extrem flexibles Orchester ist, bewies sie aber vor allem im Scherzo, das unter den Brahms-Sinfoniesätzen in Aufführungen oft einen Zug zum Schwerfälligen und Militärischen aufweist. Davon war hier nicht das Geringste zu spüren, stattdessen gelangte durch den vitalen Zugriff die atemberaubende Dramatik und das effektvolle Ineinandergreifen der Stimmen zum Vorschein, Luftsprung Paavo Järvis inklusive. Wie kontrastreich bei Brahms Heterogenes einander gegenübersteht und auseinander folgt, verdeutlichte man dann in der abschließenden Passacaglia: berückendes Flötensolo und anschließende Sturzfigur im Tutti, Figuren, die in der einen Sekunde vor Expressivität bersten, in der nächsten schon bis ins Minimale zurückgenommen sind. Dank der extrem wachen Phrasierung nicht nur der Streicher klangen in der Vierten auch die vermeintlich poltrigen Stellen klangschön und "sinnvoll", die ansonsten oft als Beleg für Brahms' mangelnde Instrumentationskusnt herhalten müssen. Quasi aus dem Stand brillant kam zu Beginn auch die 'Tragische Ouvertüre' daher, die wie aus einem Guss erklang. Paavo Järvi versteht es bei Brahms perfekt, den Wechsel von Spannung und Entspannung, Expressivität und Kantabilität so zu inszenieren, dass das große einheitliche Ganze zur Geltung gelangt, genauso wie die Einzelabschnitte für sich.
In eine ganz andere Welt führte vor der Pause Fazil Say mit Mozarts A-Dur-Klavierkonzert. Blendete man das laute Mitsummen und Gestikulieren mit der linken Hand (wenn sie, wie im Kopfsatz, weniger zu tun hatte) aus, blieb eine klar ausgehörte, auf dem Steinway überaus zeitgemäße Mozart-Interpretation. Mit der Kammerphilharmonie harmonierte der renommierte türkische Pianist ausgezeichnet, so zum Beispiel im Dialog mit dem Fagott im helltraurigen 'Adagio'. Auch das gegenseitige Sichbefeuern im heiter sprudelnden Finale blieb nicht ohne Wirkung. Zu Hochform lief Say dann in den beiden Zugaben auf. So zeigte er mit viel Liebe zum Detail (Agogik!) in den Variationen über 'Ah! vous dirai-je, Mama' KV 265 ("Morgen kommt der Weihnachtsmann"), wieviel Witz in den scheinbar einfachen Variationen steckt. Sein eigenes Stück 'Black Earth' war eine reizvolle Mischung aus Orientalismen und sich daran anschließenden Rachmaninoff-Allusionen. Durch Bearbeiten der Saiten im Instrumentenkörper mit der einen Hand und Spielen auf der Klaviatur mit der anderen entstand hier ein sehr einprägsamer reizvoller Klang zwischen Hackbrett und Baglama. Die tänzerische Seite des Abends wurde dann am Ende vom Orchester und wunderbaren Schleifern in den Oboen mit Brahms Ungarischem Tanz Nr. 3 in F-Dur abgerundet.

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