Musik als Visitenkarte

deutschlandfunk.de
Julia Keiser
15.01.2018

Das Estonian Festival Orchestra geht anlässlich des 100-jährigen Unabhängigkeitsjubiläums Estlands erstmals auf Europatournee. Das internationale Projektorchester wird Werke der Komponisten Arvo Pärt und Erkki-Sven Tüür spielen. Geprobt wurde dafür im Konzertsaal von Pärnu.



Bitterkalt und still ist es draußen, kühl ist es drinnen, im kaum beheizten Konzertsaal von Pärnu, während in Erkki-Sven Tüürs Musik gerade Estland als Nation geboren wird. Das EFO, das Estonian Festival Orchestra, probt hier normalerweise im Sommer, zum Pärnu Musikfestival. Doch um eine Geburtstagstournee für Estland zu spielen, ist das Projektorchester außerplanmäßig zusammengekommen. Viele sind der Einladung Paavo Järvis gefolgt, auch die Geigerin Marieke Kruug, die in London studiert.

"Das EFO ist das beste Orchester, was wir haben, finde ich! Ein toller Grund, im Sommer nach Hause zu kommen, viele von uns reisen aus der ganzen Welt an, um mit einander zu spielen. Ich habe in Estland mit dem Musikstudium angefangen, jetzt wo die Grenzen so offen sind und man in alle Welt reisen kann, nutze ich die Chance, in London Erfahrungen zu sammeln und meinen Horizont zu erweitern. Estland ist halt ein kleines Land, so sehr wir uns auch anstrengen. Wir haben viel Kultur, aber anderswo gibt es einfach mehr Möglichkeiten. Ich möchte gern zurückkommen oder pendeln. Im Moment sieht es damit aber schlecht aus. Mit dem Estonian Festival Orchestra zeigen wir aber, was in uns steckt. Auf unserer Tour spielen wir viel estnische Musik, von Pärt und Tüür, sie dem Rest der Welt vorzustellen, ist toll."

"Das Selbstbewusstsein, Este zu sein, ist sehr wichtig für das, was ich tue"


"Mythos" heißt das Werk von Erkki-Sven Tüür, das auf der Tournee uraufgeführt wird, denn die über 9.000-jährige Siedlungsgeschichte in Estland besteht auch aus Mythen, erklärt er. Es ist seine 9. Symphonie. Das Orchester klingt zuweilen wie ein Computer, der die Moleküle einer neuen Nation zusammenrechnet. Ein anderes Mal, als schöpfe ein riesiges Reagenzglas flüssige Materie aus der Ursuppe und gieße es in die Form von Estland.

Erkki-Sven Tüür: "Wenn ich schreibe, dann schreibe ich einfach nur Musik. Aber meine Gedanken waren schon sehr stark mit der Vorstellung von einer Staatengründung verknüpft. Das Selbstbewusstsein, Este zu sein, ist sehr wichtig für das, was ich tue. Durch kulturelle Inspiration und durch die Kraft unseres Intellekts können wir größer werden als wir es eigentlich sind. Am deutlichsten wird das durch die Kraft der Sprache, also unsere eigene Literatur, das estnische Theater, den Film und so weiter. Dasselbe gilt für Instrumentalmusik. Ich selbst kann nichts spezifisch Estnisches entdecken, kann nicht den Finger auf die Partitur legen und sagen: Da ist es. Aber es gibt bestimmte Strukturen, die genauso vorhanden sind wie zum Beispiel in sehr alten Volksliedern. Die sind aber sehr versteckt, eher Andeutungen. Aber generell gesprochen ist Kultur eine sehr starke Visitenkarte, mit der wir der Welt zeigen können, wer wir sind und wie unsere Mentalität ist."

Wie viele Komponisten möchte Erkki-Sven Tüür nichts wissen von einem nationalen Klang, den man seinem Werk anhören könnte. Der Dirigent Paavo Järvi erkennt dagegen ein musikalisches Idiom, das Tüür und den zweiten estnischen Komponisten im Tourneeprogramm, Arvo Pärt, sogar verbinde.

Paavo Järvi: "Ja, ich höre da tatsächlich etwas Gemeinsames, obwohl die Musik von Arvo Pärt und Erkki-Sven Tüür sich sehr unterscheidet. Ich habe auch meine Meinung geändert über die Diskussion darüber, ob es etwas Estnisches in der Musik gibt, ob sie besonders estnisch oder nordisch oder baltisch klinge. Komponisten wollen sowieso nicht gern mit einem Label versehen werden. Und doch höre ich in Erkki-Svens Musik etwas, das zum Beispiel ein Komponist aus Italien nicht hätte schreiben können. In seiner musikalischen Sprache ist etwas, das mit unserem Denken verbunden ist, und das wiederum ist natürlich stark beeinflusst von der Landschaft, der Natur. Und das klingt für mich wie Estland. Vor 20 Jahren hätte ich das nie zugegeben, aber ich höre da eine Art nordischer Verbindung, die für mich wiederum attraktiv ist, denn warum sollte Musik nicht den kulturellen Hintergrund ihres Komponisten reflektieren?"

Musiker aus Estland und der ganzen Welt


Und intonieren, sagt die Geigerin Liina Sigors, könne ein estnisches Werk am besten ein estnisches Orchester. Ein nationales Selbstbewusstsein, das in Estland vielfach zu spüren ist. Liina Sigors spielt auch im Nationalen Symphonie-Orchester in Tallinn. Sie trägt das Konzept des EFO, des Estonian Festival Orchestras, aus vollem Herzen mit. Musiker aus Profiorchestern in Estland und der ganzen Welt werden von Paavo Järvi eingeladen, um mit dem Orchesternachwuchs Estlands ein Projektorchester zu formen. Alle lernen dabei von einander, findet Liina Sigors.

"Estland ist ja ziemlich klein. Viele unserer Musiker sind deshalb auf der ganzen Welt verstreut, in verschiedenen Orchestern, spielen Kammermusik oder sind Solisten. Wo Du sein willst, hängt sehr davon ab, was man als Musiker will. Möchte er oder sie im eigenen Land bleiben und hier spielen oder fortgehen und sich in anderen Ländern weiterentwickeln? Ich bleibe lieber in Estland. Ich entwickle hier im Estonian Festival Orchestra meine musikalischen Fähigkeiten. Und spiele mit Musikern aus der ganzen Welt."

Ein winziger Fleck auf der Landkarte sei Estland, sagt Paavo Järvi. Aber der eigene Fleck! Historisch habe an sich schon immer europäisch gefühlt, eher nordisch als slawisch – dem Finnischen ist das Estnische sehr ähnlich. Im Herzen Europas beginnt die Tournee, in Brüssel. Das sei die stärkste Aussage, die das Estnische Festivalorchester für sein Land treffen wolle, sagt Paavo Järvi.

"Als ich das Orchester gegründet habe, war mir klar: Ich will damit keine politische Aussage treffen. Politisch ist im Übrigen schon jede Ebene davon. Schon dass wir Estland im Namen tragen, ist ein politischer Schritt. Und wenn man ein estnisches Orchester hat, das aus vielen Nationalitäten besteht, dann ist das auch ein Statement. Und letztlich widerspricht eine politische Äußerung dem Verständnis von Inklusivität, die ich hier als Hauptprinzip voranstelle. Inklusivität! Niemand fragt hier, wo der Pultnachbar herkommt. Ich glaube stark daran: Alle Musiker, ganz gleich aus welchem Land und mit welcher persönlichen politischen Meinung, alle Musiker sind Brüder. 'Alle Menschen werden Brüder', davon sind wir in unserer Zeit leider noch ein Stück entfernt, aber auf der Bühne findet das schon statt."

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