Estland setzt seinen Rang als singende Nation aufs Spiel

FAZ
Jan Brachmann
21.07.2020


Seit in Estland am 1. Juni die während der Corona-Pandemie geltende Quarantäne-Pflicht aufgehoben wurde und sich die Reise- wie die Veranstaltungregeln lockerten, war klar: Das Musikfestival in Pärnu würde stattfinden. „Ich habe nie darüber nachgedacht, das Festival komplett abzusagen“, sagt der Dirigent Paavo Järvi, der es seit zehn Jahren leitet. „Absagen ist momentan das Leichteste auf der Welt. Ich dachte: Entweder machen wir es nur im Internet, oder wir machen Kammermusik – aber die ganze Saison abzusagen, das ist defätistisch.“

Nun verläuft das Infektionsgeschehen in Estland seit Wochen so günstig, dass das Leben in Geschäften, Restaurants und Konzertsälen aussieht, als habe es nie eine Pandemie gegeben. Manche Esten reden von der „Corona-Zeit“, als sei sie vorbei. Veranstaltungstechnisch ist das, was gerade in Pärnu passiert, weitaus gewagter, als es die Vorhaben der Salzburger Festspielesind. Es grenzt entweder an Leichtsinn oder an ein Wunder: Ein Musikfestival findet statt, mit einem Orchester im Zentrum, das dicht an dicht auf dem Podium sitzt und aus dieser Dichte spielerische Funken schlägt, so dass die beste Musik dabei entsteht, die man derzeit überhaupt hören kann. Und das Publikum im modernen Konzertsaal des estnischen Ostseebads sitzt ebenfalls dicht an dicht, ohne Masken im Gesicht, allenfalls mit desinfizierten Händen, und hört gebannt, glücklich, manchmal fassungslos zu.

Die Angst, sich anzustecken, verfliegt in seligen Momenten, wenn man erlebt, wie Paavo Järvi Beethoven dirigiert. Das macht ihm derzeit keiner nach. Das ziemlich rechtwinklige, starre Hauptthema im Kopfsatz des ersten Klavierkonzerts federt vom ersten Takt an: ein Marsch voller Grazie, freundlich, biegsam, zugewandt. Allein die Arbeit mit den Hörnern wäre eine eigene Betrachtung wert: Wie sie gereizt schnarren können, sich dann wieder zärtlich an Streicher und Oboen anschmiegen – das ist gestalterische Virtuosität im Detail, die Kenntnis und jahrelange Erfahrung verrät. Paavo Järvis Zyklus aller Beethoven-Symphonien mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ist noch immer unübertroffen. Was er dort an Erkenntnissen erworben hat, überträgt er hier höchst effektiv auf die Streicher des Tallinn Chamber Orchestra und die Bläser des Estonian Festival Orchestra.

„Im Grunde ist doch alle Musik parlando zu spielen“, sagt Järvi und meint damit, dass sie sprechen müsse. Der Solist Kalle Randalu mischt sich aufgeweckt und zu Scherzen aufgelegt in die orchestralen Gespräche. Dieses frühe Beethovenkonzert wurzelt – besonders in seinem Finale – ganz in einer Kultur dichter Konversation, die auf Verblüffung, Bonmots, Provokationen und Begütigungen angelegt ist und die hier in Pärnu zwischen Järvi und Randalu lebendigste Gegenwart wird.

Paavo Järvi hat das Estonian Festival Orchestra ins Zentrum seines vor zehn Jahren gegründeten Festivals gestellt. Erste CDs beim Label Alpha Classics sowie Tourneen durch Europa und nach Japan haben bewiesen: Dieses Orchester, das höchstbegabte Musiker aus vielen Ländern vereint, hat jetzt das Niveau, wie es das Lucerne Festival Orchestra oder das Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von Claudio Abbado einmal hatten. Järvi und Abbado sind insofern ein ähnlicher Dirigententyp, als sie die Kommunikation unter den Musikern zulassen und sogar anregen, statt sie auf ihre eigene Position zu zentralisieren. Zudem hat Järvi eine exzellente, gewiss durch den Vater Neeme Järvi geschulte Technik: Knapp, präzise, sicher im Stand (er hält die Füße still) und wirksam.

Das Festival in Pärnu ist derzeit einer der wenigen musikalischen Gründe, überhaupt nach Estland zu fahren. Die Opernhäuser in Tallinn und Tartu strahlen kaum über ihre Region hinaus. Das Tallinner Opernhaus wird zudem derzeit von einem Skandal um seinen Intendanten Aivar Mäe erschüttert, gegen den ein Ermittlungsverfahren wegen sexueller Übergriffe und Herabwürdigungen von Mitarbeiterinnen eingeleitet wurde. Das Land berauscht sich an der Verehrung für den Komponisten Arvo Pärt, dem der Staat für mehr als acht Millionen Euro schon zu Lebzeiten einen Schrein in Gestalt eines Arvo-Pärt-Zentrums errichtet hat. In der Stadt Rakvere, wo Pärt seine Kindheit verbrachte, soll die zum Fitness-Studio entfremdete Pauluskirche in einen Arvo-Pärt-Konzertsaal umgebaut werden: ein weiteres Monument nationaler Kunstreligion. So schön diese Begeisterung scheint – sie trügt erheblich: Denn die Jugend sieht darin für sich keine Perspektive mehr. Von der Georg-Ots-Musikspezialschule und vom Tallinner Musikgymnasium entschließen sich kaum noch Schüler zu einem Musikstudium. Sie haben das Vertrauen in den Betrieb verloren. „Ich weiß“, sagt Paavo Järvi, „und das macht mir große Sorgen. Wir haben nicht nur in Estland, sondern weltweit das Problem, dass besonders Männer nicht mehr die Musik zum Beruf machen wollen. Frauen gehen verstärkt auf die Hochschulen, was großartig ist. Aber Männer haben das Gefühl, sie könnten als Musiker keine Familie mehr ernähren. Und das ist traurig. Wir versuchen hier in Pärnu, die Hochbegabten mit Stipendien, Kursen und Kontakten zu fördern, sie zu ermutigen, der Musik ihr Leben zu widmen. Wir wollen die nächste Generation von Musikern erschaffen.“

Järvi, der in Estland geboren wurde, in den Vereinigten Staaten seine Familie hat und gerade als Chefdirigent das Zürcher Tonhalle-Orchester befeuert, ist Kosmopolit und Kulturpatriot zugleich. „Dieses Festival ist in Estland verwurzelt. Ich kann und will es nicht woandershin verpflanzen. Aber bei dem ganzen musikalischen Reichtum dieses Landes habe ich doch das Gefühl: Es fehlt uns an wirklich großen Sängern. Zwei, drei mag es geben. Aber für ein Land, das sich selbst als singende Nation versteht und von dem die singende Revolution ausging, ist das einfach zu wenig“, betont Järvi, der selbst nicht verstehen kann, warum ein Land, das jahrhundertelang nur als Kulturnation ohne Staat überleben konnte und mit Gesang die Sowjetunion in die Knie zwang, den weltweiten Musikbetrieb kaum mehr mitbestimmt. „International dominieren lettische, finnische und schwedische Sänger. Wo aber sind die Esten?“, fragt er leidenschaftlich. „Wir haben so ausgezeichnete Musiker im Land – aber wo ist der estnische Weltklassegeiger? Wo der Weltklassecellist? Wo ist ein estnisches Orchester von Weltrang? Daran müssen wir hier arbeiten.“

Triin Ruubel, die junge Geigerin, die derzeit mit dem Konzertmeister Florian Donderer am ersten Pult im Orchester sitzt, ist so eine Hochbegabung: Sie verfügt über Schwung, einen glänzenden Ton, Reaktionsschnelle, charismatische Ausstrahlung. Genauso der junge Cellist Theodor Sink, der sich durch Kraft, Ausdauer, gezielte Phrasierung und schnelle Auffassungsgabe auszeichnet. Sich in der Welt durchzusetzen wird für sie nicht leicht werden. Aber Järvi will etwas für solche Hochbegabungen tun. Für sein Orchester wünscht er sich, nicht nur eingeladen zu werden, „weil es irgendwo auf der Welt ein baltisches Thema gibt – sondern weil das Ensemble anderen Spitzenorchestern gleichwertig ist. Das ist mein Langzeitziel.“ Und Järvi ist dabei gleichermaßen ausdauernd wie sprintstark.


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