Paavo Järvi dirigiert Mahlers 6. Sinfonie zum Abschied

Giessener-allgemeine.de
Anne Sofie von Otter
30.06.2013
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Zum Abschied dirigiert Paavo Järvi noch einmal das HR-Sinfonieorchester, Anne Sofie von Otter singt Wesendonck-Lieder. (Foto: Klostermann)

Wagners 200. Geburtstag und seine Wesendonck-Lieder stehen eigentlich beim Eröffnungskonzert des 26. Rheingau-Musikfestival im Kloster Eberbach zuerst auf dem Programm. In den Mittelpunkt aber geraten im Laufe des Abends zwei andere: Gustav Mahler und sein Meister-Interpret Paavo Järvi. Der entscheidet sich bei seinem Abschied vom hessischen Rundfunkorchester nach sieben Jahren für die persönlichste Sinfonie des österreichischen Komponisten und beschließt damit auf beeindruckende Weise seinen Mahler-Zyklus.

Von Adorno bis Leonard Bernstein haben Interpreten darauf hingewiesen, dass Gustav Mahler in seiner 6. Sinfonie die faschistische Gewalt des brutalen kommenden Jahrhunderts vorausahnte und sie mit Kafkas visionären Texten verglichen. Seine berühmt-berüchtigte Ehefrau Alma Mahler-Werfel dagegen sah ihren eigenen Charakter im ersten Satz verewigt und meinte, die Hammerschläge des Finales als Antizipation ihres Mannes von drei kommenden persönlichen Katastrophen ausdeuten zu müssen: den Tod der Tochter, seine Herzkrankheit und das Erscheinen des Nebenbuhlers Walter Gropius.

Warum Paavo Järvi sich mit dieser zutiefst aufwühlenden und lauten Riesensinfonie verabschiedet, zu Uraufführungszeiten erhielt sie den Beinamen »Erdbeben-Sinfonie«, lässt aufhorchen. »Art« als pures »Entertainment« und nicht als unbequeme Herausforderung sei leider auch in Deutschland auf dem Vormarsch, sagt er im Gespräch nach dem Konzert. Welcher 15-Jährige höre sich heute freiwillig ein Werk wie Mahlers Sechste an, wer halte das überhaupt noch aus? Seine hellen Augen blicken fast vorwurfsvoll. Auf die Frage, ob er in Japan, seiner nächsten Wirkungsstätte, noch mehr Respekt vor großer Musik erwarte, antwortet er: »I hope so, but I am not sure.«

Zum Abschied also noch einmal ein warnendes Kassandra-Donnern gegen den europäischen Kulturverfall? Nur wenige Zuhörer fühlen sich von der 82-minütigen Sinfonie in der Tat unbequem herausgefordert wie einige überforderte Damen, die sich die Ohren zuhalten, wenn die Dezibelzahlen allzu sehr im Gehörgang schmerzen. Alle 110 vom Komponisten geforderten Musiker hatte Järvi in der Basilika des Kloster Eberbach versammelt. Acht Hörner, sechs Trompeten, vier Posaunen plus eine Basstuba, dazu ein starker Percussionapparat, der mit vier Pauken, mit Kuhglocken, mit Celesta und dem Hammerschläger alles aufbietet, was das spektakuläre Werk berühmt gemacht hat. Als größte Herausforderung erweist sich die teils tückische Überhalligkeit der Zisterzienser-Basilika.

Wie es dem estländischen Dirigenten im Verein mit seinem hoch konzentrierten Orchester gelingt, einander aufmerksam zuzuhören, teils Bruchteile von Sekunden zu früh einzusetzen, um den wuchtigen Gesamtklang zu erzielen, wie kein Streichermotiv unter dröhnendem Blech verschwindet, wie Vehemenz mit lyrischen Passagen kontrastiert und wie genau am Ende des überlangen vierten Satzes die katastrophale Vernichtung mit Mahlers Anweisung »morendo«, sprich sterbend, umgesetzt wird, reißt das Publikum zu Standing Ovations von den Sitzen.

Da hatte man fast vergessen, dass es eigentlich um Richard Wagner ging und dass Anne Sofie von Otter vor der Pause die Wesendonck-Lieder gesungen hatte. Wer Christiane Iven Ende Februar in der Alten Oper hören durfte, war im Vergleich enttäuscht, denn die angestrengte Vortragsweise von Otters ließ Gelöstheit, volltönende Tiefe und dynamische Abwechslung besonders im Vortrag von »Im Treibhaus« und »Schmerzen« vermissen – und das lag eindeutig nicht an der schwierigen Akustik.

Was bleibt? Der hoffnungsvolle Ausblick, dass Järvi dem Orchester weiter verbunden bleibt und als Gast das nächste Rheingau-Musikfestival eröffnen wird, wie Festivalintendant Michael Herrmann schmunzelnd verriet. Bettina Boyens

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