„Klassik ist nicht altmodisch!“

Die Presse

17.08.23

VON WALTER WEIDRINGER

Klassik. Dirigent Paavo Järvi über Musik mit russischem Akzent, die Selbstvermarktung von Dirigenten und warum er sich nur dank der Nato in seiner Heimat Estland sicher fühlt.

Die Presse: Herr Järvi, Sie kommen mit Ih­ rem viel gerühmten Estonian Festival Or­ chestra zum Grafenegg Festival und spie­ len dort Tschaikowskys Erste, genannt „Winterträume“. Warum gerade die? Paavo Järvi: Weil sie vielleicht meine liebste Tschaikowsky­Symphonie ist. Sie besitzt nämlich noch diese charmante Naivität, die­ sen jugendlichen, winzigen Mangel an Er­ fahrung, gepaart mit einer speziellen Ernst­ haftigkeit. Da ist noch so viel Lyrik im Ver­ gleich zum späteren, schicksalsschweren Tschaikowsky. Es zeigt sich darin auch der Übergang von einem eher russischen zu ei­ nem eher kosmopolitischen Komponieren. Wer im Westen an russische Musik denkt, dem fällt als Erster Tschaikowsky ein. Aber er hat sich zu einem westlichen Komponisten mit russischem Akzent entwickelt.

In Beethovens c­Moll­Klavierkonzert ist Rudolf Buchbinder der Solist... Buchbinder ist ein Phänomen. Irgendwie schafft er es, einen in die Zeiten von, sagen wir, Wilhelm Backhaus zurückzukatapultie­ ren. Bei ihm hört man, wie wichtig die Form ist, eine rhythmische und strukturelle Klar­ heit. Gerade heutzutage, da viele zum allzu Freien und Gefühligen tendieren, liebe ich sein Spiel. Weil es auch keinen Hauch von Sentimentalität darin gibt.

Zum Auftakt spielen Sie eine Art Zugabe, „Tormiloits“ von Erkki­Sven Tüür.
Der Titel lautet übersetzt ungefähr „Sturm­ beschwörung“, es ist ein kurzes, aber aufre­ gendes Souvenir aus Estland. Höfliche Gäste kommen nicht mit leeren Händen.

Die Atmosphäre bei Ihrem Pärnu Festival, dem Stammsitz Ihres Orchesters, ist etwas Besonderes. Versuchen Sie da Ihre Kind­ heit wieder aufleben zu lassen? Durch Ih­ ren Vater, den Dirigenten Neeme Järvi, sind Sie dort ja als Bub im Sommer Größen wie Schostakowitsch, Rostropowitsch und vielen anderen begegnet.

Tatsächlich sind in Sowjetzeiten viele bedeu­ tende Musiker von selbst gekommen. Heute lade ich mit Vergnügen solche Koryphäen ein. Pinchas Zukerman etwa kenne ich schon ewig, ich kann überall mit ihm auftre­ ten. Aber die Jungen hier haben diese Mög­ lichkeit noch nicht. Die Erfahrung, mit ihm zu spielen, wird sie ihr Leben lang begleiten.

Die Weiterbildung der Jungen spielt in Pär­ nu eine besondere Rolle.
Nach unserem Konzert hat Zukerman versi­ chert, unbedingt zurückkehren zu wollen, für Konzerte, aber ganz besonders auch als Lehrer. Das hat mich wirklich gerührt, genau das ist für mich der Geist von Pärnu.

Hat sich die Musikwelt geändert durch die Pandemie oder wollen alle nur so schnell wie möglich zum Status quo ante zurück?Sie hat sich definitiv verändert. Natürlich

In den baltischen Staaten gibt es eine gro­ wollen wir zum Teil den Rhythmus von zuvor
ße Welle der Solidarität mit der Ukraine. wiederherstellen, aber es fühlt sich nicht
Fühlen Sie sich in Estland im zweiten mehr richtig an. Es ist auch plötzlich eine
Kriegsjahr nun merkwürdigerweise siche­ ganze Industrie entstanden oder wesentlich
rer, weil Putin anderswo beschäftigt ist? ausgebaut worden, die uns die Musik nach
Er mag beschäftigt sein, aber er ist auch un­ Hause gebracht hat. Das Klassikbusiness war
berechenbar. Man kann die EU und die Nato berüchtigt für seine Langsamkeit und Infle­
kritisieren, aber für uns sind sie der einzige xibilität. Plötzlich war es zu einem Riesen­
Grund für ein gewisses Gefühl der Sicher­ schritt vorwärts gezwungen: endlich zu ler­
heit. Es würde nämlich nur drei Stunden nen, was es eigentlich mit diesem Internet
dauern: In drei Stunden hätten die Russen auf sich hat. Zuvor war das nur auf rückstän­
hier alles zerstört. Der Nato­Beitritt von digste Weise passiert. Fernsehen und Radio
Finnland und Schweden ist ein Riesenfort­ sind von gestern, sie reichen nicht mehr.
schritt in dieser Sicherheit. Es ist ein typisch westliches Missverständnis zu sagen, Putin

Das wussten Sie aber schon vorher.

Ja, im Moment müssen wir alles nützen, um klassische Musik unter die Leute zu bringen. Klassische Musik muss sich auch nicht dafür entschuldigen, altmodisch zu sein. Das ist sie nicht! Wir müssen unsere Sache nur wirk­ lich gut machen. Und nicht Klischees bedie­ nen wie „Klassik ist entspannend“, uns nur auf dem Althergebrachten ausruhen, bloß Routine abliefern. Nach dem Konzert mit Zukerman in Pärnu kam ein bekannt finanz­ kräftiger Mann zu mir und meinte: „Das hat mich begeistert, rufen Sie mich morgen an!“ Unterschätzen wir also niemals die Kraft der Musik.

In Ihrer Järvi Academy unterrichten Sie Dirigiernachwuchs. Wie wichtig ist das Marketing dabei mittlerweile, das Image? Manche Leute sind von Natur aus einfallsrei­ cher darin, wie sie auftreten und auf Men­ schen zugehen, andere sind vielleicht in Stil und Kleidung auffälliger. Das ist alles in Ord­ nung, solange es mit Begabung und Können einhergeht. Äußerlichkeiten werden zwar wichtiger, aber immer noch gilt: Wenn nur Hypermarketing da ist und nichts dahinter, dann fliegt das irgendwann auf.

fühle sich bedroht, weil ihm die Nato auf den Pelz rücken würde. Der Grund dafür, dass die Nato näherkommt, ist die russische Ag­ gression. Die lässt die Nachbarn Schutz su­ chen. Würde Russland als zivilisiertes Land Gesetze und Grenzen respektieren, wäre die Nato kein Thema.

Im Estonian Festival Orchestra, das Sie 2011 gegründet haben, sind neben dem estnischen Nachwuchs Spitzenmusiker aus insgesamt 19 Ländern vertreten – da­ runter auch einige Russen.

Haben Sie den Song Contest gesehen? Da wurde Estland von einem russischstämmi­ gen estnischen Mädchen repräsentiert. Selbstverständlich gibt es durch die gemein­ same Sowjetgeschichte viele Verbindungen. Darum geht es also nicht. In Pärnu haben wir eine ganz klare Politik: Wer einen russischen Pass hat, in Russland lebt und dort haupt­ sächlich arbeitet, kann während des Krieges nicht bei uns spielen. Ein interessanter Fall ist der eines Esten mit estnischem Pass, der auch ein Sommerhaus hier in Pärnu besitzt. Aber er ist Erster Cellist in einem russischen Orchester, also haben wir ihn nicht eingela­ den. Und er versteht das auch.





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